Seit Langem kontrovers diskutiert und derzeit wieder hochaktuell ist die Debatte über die Abschussfreigabe von Alttieren auf Bewegungsjagden. Olaf Simon und Johannes Lang greifen die Problematik auf, geben einen Überblick über den aktuellen Wissensstand und diskutieren die Ergebnisse von auf Bewegungsjagden erlegten Alttieren.
Die Rotwildjagdstrecken haben in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt in nahezu allen Bundesländern zugenommen. Dieser Trend zeigt noch keine Kehrtwende, sodass aus den steigenden Abschüssen auf hohe Zuwächse und hohe Alttierbestände geschlossen werden kann. Eine Kernaufgabe der Regulierung ist daher ein ausreichend hoher Alttierabschuss, um sowohl Zuwachs als auch Jagdaufwand und Jagddruck zu begrenzen. Für eine Bestandsregulierung gelten allgemein Alttieranteile an der jährlichen Gesamtstrecke von mindestens 20 % als notwendig.
Rotwild: So eng ist die Bindung zwischen Kalb und Alttier
Zahlenmäßig hohe Alttierabschüsse tierschutzgerecht umzusetzen, ist eine jagdliche Herausforderung, die Zeit, Erfahrung mit der Tierart und Jagdpraxis erfordert. Das liegt auch in der Biologie des Rotwildes begründet: Rotwild hat ein ausgeprägtes Sozialverhalten. Kahlwildrudel sind Großmutter-Mutter-Familien, in denen enge verwandtschaftliche Beziehungen bestehen. Rotwildkälber haben eine enge Beziehung zu ihren Müttern, die in der Regel über das erste Lebensjahr andauert und in gelockerter Bindung zeitlebens anhält. Die Bindung hat für das Kalb viele Vorteile, die zum Teil lebenslang bestehen. Der Verlust der Mutter hat dementsprechend erhebliche Nachteile.
Das Alttier und seine Bedeutung
Vorteile der mütterlichen Führung und Fürsorge:
- Kälber und auch noch Einjährige werden von ihren Müttern in sozialen Konflikten unterstützt (Silk 2007).
- Die Unterstützung durch das Alttier erleichtert es dem Kalb, eine eher zentrale Position im Rudel einzunehmen (Clutton-Brock et al. 1982).
- Effektivere Nahrungsaufnahme, Kennenlernen besonders günstiger Futterplätze, gemeinsames Teilen der Futterplätze (Brookshier & Fairbanks 2003; Jaeggi et al. 2008).
- Übernahme von Nahrungstraditionen (Oostindjer et al. 2011) und besonderer Nahrungsvorlieben (Mirza & Provenza 1992).
- Kennenlernen traditioneller Habitatnutzungs- und Bewegungsmuster wie Wanderverhalten und -routen (Clutton-Brock et al. 1992; Nelson 1998).
- Geringeres Prädationsrisiko (Brookshier & Fairbanks 2003).
Nachteile für das Kalb nach Verlust des Muttertiers im ersten Lebensjahr:
- Reduktion der täglichen Körpergewichtszunahmen um 20 bis 30 Prozent (Pollard et al. 2002).
- Geringere Körpergewichte und ein verlangsamtes Wachstum (Demarais et al. 1988; Holand et al. 2012; Andres et al. 2013).
- Geringere Überlebensraten (Guiliano et al. 1999; Pollard et al. 2002; Holand et al. 2012; Andres et al. 2013), wobei verwaiste Hirschkälber eher sterben als verwaiste Wildkälber (Andres et al. 2013).
- Überleben verwaiste Hirschkälber, wirkt das Verwaisen zeitlebens nach, was sich in geringeren Körperstärken und einem geringeren Reproduktionserfolg ausdrückt (Andres et al. 2013). OS/ JL
Rotwild: Das geschieht nach dem Alttierabschuss
In welchem Umfang der jagdlich bedingte Abgang des Muttertieres in der Praxis tatsächlich auftritt, wurde bisher in Deutschland nicht untersucht. Dabei ist die Datenerhebung vergleichsweise einfach: Zunehmend häufiger wird auf Bewegungsjagden zentral aufgebrochen. Hierbei besteht die Möglichkeit, den Gesäugestatus der erlegten Alttiere vor dem Aufbrechen zu erheben. Das haben wir in den Jahren 2006 bis 2017 auf 83 meist revierübergreifend organisierten Bewegungsjagden getan. In den beprobten Revieren ist es allgemein üblich, eine bis mehrere Wochen vor einem Bewegungsjagdtermin nicht mehr auf Rotwild zu jagen. Mit dieser zeitweiligen Jagdruhe soll der Jagderfolg der Bewegungsjagd maximiert werden. Die Erlegung eines Kalbes wenige Tage vor der Bewegungsjagd ist daher bei den begutachteten Jagden eher unwahrscheinlich. Am lebenden Alttier ist zudem bereits vier Tage nach dem Tod eines im August/ September erlegten Kalbes eine deutliche Verkleinerung des Gesäuges erkennbar. Innerhalb von eineinhalb bis zwei Wochen nach Verlust des Kalbes ist das Gesäuge vollständig zurückgebildet.
So lange braucht das Kalb das Alttier
- Die Setzzeit ist beim Rotwild relativ exakt abgrenzbar: Sie erstreckt sich in Deutschland über zwei Monate hinweg, nämlich vom 1. Mai bis 30. Juni. Die Mehrzahl der Kälber wird dabei in der zweiten Maihälfte gesetzt (Wagenknecht 1981; Bützler 1986; Raesfeld & Reulecke 1988). Der Zeitraum bis zum Selbständigwerden der Kälber ist jedoch immer wieder Gegenstand von Diskussionen.
- Im Spätherbst, spätestens zum Jahresende, nimmt die Frequenz des Säugens deutlich ab (Clutton-Brock et al. 1982; Bützler 1986). Es werden aber auch sieben Monate nach der Geburt einige Kälber weiter gesäugt. Setzt das Alttier im Folgejahr kein Kalb, verbleibt die Bindung zum Vorjahreskalb weiterhin eng (Guiness et al. 1979), und in einigen Fällen wird es sogar bis zum Alter von zwei Jahren weitergesäugt (Clutton-Brock et al. 1982). Vor diesem Hintergrund kann der Zeitpunkt der Entwöhnung daher auf das Schmaltier- bzw. Schmalspießerstadium bzw. ein Alter von etwa zwölf Monaten festgelegt werden (Wölfel 1981; Andres et al. 2013).
- Nach aktueller Auffassung umfasst der Zeitraum bis zum Selbständigwerden beim Rotwild daher nicht nur die Zeit der unmittelbaren Aufzucht, sondern auch die sich anschließende Zeit der Betreuung des Kalbes bis zu dessen Entwöhnung (Gruber & Herzog 2016; Petrak & Heider 2017; entgegen siehe aber Meyer-Ravenstein 2017). OS/ JL
Alttiere, die im August oder September bereits ihr Kalb verloren haben, sind bei einer Erlegung ab Oktober als solche am Gesäugezustand „nicht mehr säugend, rückgebildet“ eindeutig erkennbar und werden als „trocken“ beschrieben, ebenso wie Alttiere, die in diesem Jahr nicht führten oder früh ihr Kalb verloren haben. Zusätzlich wurden die Beobachtungen der Schützen und Treibern, während der Jagd herangezogen, um gemeinsame Erlegungen von Alttieren und Kälbern (Dubletten) zu identifizieren. Als Dubletten wurden jene Alttiere gezählt, die gemeinsam mit dem Kalb von demselben Schützen erlegt wurden. Ebenfalls darunter fielen jene Alttiere, für die durch Standkartenauswertung sowie Treiber- und Schützenbefragung erkennbar war, dass das Kalb an benachbarten Ständen erlegt worden ist. Die Freigabe auf den beprobten Jagden erfolgte nach oder analog der folgenden Formulierung: „Der Alttierabschuss ist möglich, wenn das zugehörige Kalb zuvor selbst oder erkennbar vom Standnachbarn erlegt wurde. Einzeln anwechselnde Alttiere können erlegt werden, sofern der Jagdverlauf bzw. die Standsituation es zulassen und ihr Verhalten darauf schließen lässt, dass sie nicht oder nicht mehr führen“.
Abschuss beim Rotwild: Dreivietel der Strecke war führend
Insgesamt wurde der Gesäugestatus von 368 erlegten Alttieren begutachtet. Für 4 % blieb der Gesäugestatus meist durch vorzeitiges Aufbrechen und vollständiges Entfernen des Gesäuges „nicht beurteilbar“. Bei 20 % der erlegten Alttiere war das Gesäuge zurückgebildet und ohne Milch. Diese Alttiere hatten zum Erlegungszeitpunkt kein Kalb (mehr) geführt. Alle weiteren Alttiere (76 % der Alttierstichprobe) waren zum Erlegungszeitpunkt oder kurz davor führend. Immerhin 25 % aller auf den Bewegungsjagden erlegten Alttiere konnte tierschutzgerecht als Dublette mit dem dazugehörenden Kalb erlegt werden. Bei 51 % der erlegten Alttiere (187 von 368) konnten Standkartenauswertungen, Schützen- und Treiberbefragungen jedoch nicht klären, ob die Kälber dieser Tiere im Verlauf des Treibens erlegt worden sind oder nicht.
Beurteilung von Gesäugezuständen
- Am Jagdtag ein Kalb führend: In der Praxis ist beim Aufbrechen ein gefülltes Gesäuge sehr leicht erkennbar: Milch fließt oder spritzt bereits bei leichtem Zug oder nach mehrmaligem Ziehen an der Zitze. Auch Stücke, bei denen nach mehrmaligem Ziehen der Zitzen nur wenig Milch fließt bzw. Milch erst beim Schnitt durch das Gesäuge aus dem Drüsengewebe läuft, werden als führend angesprochen. Hierbei handelt es sich vermutlich um jene Alttiere, die ihr Kalb erst vor Kurzem noch gesäugt haben oder bei denen die Phase der Milchentwöhnung bereits begonnen hat.
- „Nicht-führend“: Alttiere, deren Gesäugestatus nach Krähenmann (1971) als „nicht mehr säugend, rückgebildet“ angesprochen wurde.
- Bereits aufgebrochene Stücke wurden als „nicht beurteilbar“ von der Auswertung dieser Statistik ausgeschlossen. OS/ JL
Neben der bewussten Erlegung eines führenden Alttieres kann es im Verlauf einer Jagd auch zur Trennung von Alttier und Kalb kommen, sodass ein vermeintlich nicht-führendes Tier den Schützen alleine anwechselt. Nach Daten aus Frankreich werden zur Zeit der Bewegungsjagden (Oktober, November) im Mittel über 20 % aller führenden Alttiere ohne Kalb beobachtet. Jagdpraktische Erfahrungen und Beobachtungen zum Trennungsverhalten von Muttertier und Kalb im Verlauf von Bewegungsjagden sind nicht selten und jüngst auch in einer wissenschaftlichen Studie aus dem Hunsrück belegt. Solche Trennungen erfolgen entweder durch überraschendes Annähern schneller und stumm jagender Hunde oder auch das überraschende Aufeinandertreffen von Treibern und Mutterfamilie. Häufig verlässt das Alttier in solchen Fällen das Kalb, welches liegen oder in der Deckung stehen bleibt und erst durch spätere Kontakte mit Hunden oder Treibern alleine flüchtet. Zudem ist der Anteil nicht-führender Alttiere zu Beginn der Bewegungsjagdsaison in aller Regel gering, da zuvor meist nur wenige Kälber erlegt wurden. Der Anteil nicht-führender Alttiere zum Zeitpunkt Ende Oktober liegt verschiedenen Untersuchungen zufolge zwischen 15 und 20 %.
Geht man davon aus, dass sich die Erleger überwiegend an die Freigabe gehalten und im Rahmen der untersuchten Bewegungsjagden neben Alttieren als Dubletten nur einzeln anwechselnde Stücke erlegt haben, dann ergibt sich daraus ein Anteil nicht-führender Stücke unter den einzeln anwechselnden Alttieren von 28 %. Die Möglichkeit, dass ein auf einer Bewegungsjagd einzeln anwechselndes Alttier noch führend ist, läge demnach bei etwa 3:1. Nicht auszuschließen ist, dass das Kalb und das zugehörige Alttier an entfernt liegenden Jagdständen erlegt wurden und eine Zuordnung am Jagdtag nicht möglich war. Auf einigen Jagden wurden von allen erlegten Stücken Gewebeproben genommen, so dass eine mögliche Zugehörigkeit solcher Fälle nun genetisch geprüft werden kann.
Rotwild auf Bewegungsjagden: Hohe Verantwortung für Jäger
Die Freigabe und der Abschuss von Alttieren auf Bewegungsjagden ist daher immer sowohl mit einer hohen Eigenverantwortung der teilnehmenden Jägerinnen und Jäger und ebenso des Jagdleiters verbunden. Schließlich ist es Aufgabe des Jagdleiters, die Jagdgäste nach Erfahrung und Können bestmöglich auszuwählen, den Hundeeinsatz zu organisieren und die jagdlichen Freigaben unter Beachtung des Tierschutzes vor der Jagd zu erläutern. Ein zentrales Aufbrechen und die Dokumentation des Gesäugestatus aller erlegten Alttiere vor dem Aufbrechen sollte grundsätzlich zum Ablauf einer Bewegungsjagd dazugehören, um das Abschussgeschehen nachvollziehbar dokumentieren zu können. Auch, um zeitlich nachfolgende Jagden nach den strengen Vorgaben des Tierschutzes optimieren zu können. Die Ausgabe von Standkarten vor der Jagd und das Auswerten direkt nach der Jagd ist des Weiteren hilfreich, um den Jagdverlauf und das Abschussgeschehen insgesamt nachzuvollziehen und sauber zu dokumentieren.
Tierschutzaspekt
- § 22 Abs. 4 des Bundesjagdgesetzes verbietet es, für die Aufzucht notwendige Elterntiere bis zum Selbständigwerden der Jungtiere zu bejagen.
Das Führungsbedürfnis von Kälbern durch das Muttertier über das gesamte erste Lebensjahr ist wildbiologisch unbestritten. Gleichzeitig machen hohe Rotwildbestände einen ausreichend hohen jagdlichen Eingriff in den weiblichen Bestand zwingend notwendig. Die Ergebnisse der wildbiologischen Forschung und jagdpraktische Erfahrungen liefern die Grundlagen artgerechter Bejagungsstrategien. Jagdgesetz und Tierschutzgesetz zeigen den rechtlichen Rahmen auf. Hegegemeinschaften und Jagdbetriebe können mit wenig Aufwand relevante Daten dokumentieren, um die Jagdausübung tierschutzgerecht nachvollziehbar zu halten, auch gegenüber der Kritik von Dritten. Die Ergebnisse zeigen einen hohen Anteil am Jagdtag noch führender Alttiere. Die Möglichkeit, dass ein auf einer Bewegungsjagd einzeln anwechselndes Alttier noch führend ist, liegt unseren bisherigen Ergebnissen zufolge bei etwa 3:1. Ziel der Jagdpraxis muss es sein, tierschutzkonform zu jagen und damit rechtlich und formal unangreifbar zu sein.