Genetische Verarmung beim Rotwild: Rotwild vor dem Aus?

Unser Rotwild gerät durch Straßen, Siedlungen und falsche Bewirtschaftung immer stärker unter Druck. Die Folgen sind inzwischen sogar an den Genen abzulesen! Wildbiologen schlagen daher Alarm.
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Je größer die Vernetzung, desto besser der Genaustausch und die Gesundheit der Stücke.

Wenn landläufig von Gesundheit die Rede ist, kommt einem sofort die körperliche Verfassung eines Menschen oder Tieres in den Sinn. Die WHO definiert ihn für unsere Spezies konkret als „einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur dem Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“

Genetische Gesundheit ausschlaggebend

Insbesondere bei Wildtierpopulationen müsste man die Definition in diesem Zusammenhang um einen Aspekt erweitern: die genetische Gesundheit. Diese kann in hohem Maße ausschlaggebend für das Wohl eines Einzelindividuums bzw. einer Population sein. Welche grundsätzliche Bedeutung der Gesundheit unserer Wildtiere beigemessen wird, zeigt sich auch daran, dass der Gesetzgeber in § 1 des Bundesjagdgesetzes die Herstellung eines gesunden Wildbestandes ausdrücklich verankert hat. 

Ein Maß für die genetische Gesundheit eines Wildtiervorkommens ist ihre genetische Variation. Sie gibt darüber Auskunft, wie anpassungsfähig ein Wildtierbestand ist. Denn im Laufe der Entwicklung ändert sich die Häufigkeit von Genen bzw. Genvarianten, die in einer Population auftreten. Die Variabilität ermöglicht es, auf Umweltveränderungen zu reagieren und anpassungsfähig zu bleiben.

Die genetische Gesundheit eines Wildtieres ist ausschlaggebend für das Wohl des Individuums.
Die genetische Gesundheit eines Wildtieres ist ausschlaggebend für das Wohl des Individuums.

Genlage beeinflusst Umweltanpassung

Sie ist also in hohem Maße entscheidend für die Fortentwicklung einer Population. Geht sie verloren, kann dies folgenreiche Konsequenzen nach sich ziehen. Gerät eine Population gar in eine sogenannte Flaschenhalssituation, birgt dies schwerwiegende Gefahren. Wird beispielsweise ein Wildtiervorkommen durch eine Autobahn abgeschnitten, steht nur noch ein mehr oder weniger reduzierter Teil an Individuen als Fortpflanzungspartner bereit. 

Damit reduziert sich auch die Zahl der Allele (Genvarianten). Im Ergebnis wächst zugleich die Gefahr auf einen Fortpflanzungspartner zu treffen, der enger mit einem selber verwandt ist, als es per Zufall der Fall wäre. Dies ist gleichzeitig die Definition von Inzucht.

Kommt es tatsächlich zu Inzucht, kann dies nicht nur Auswirkungen auf die Überlebensfähigkeit eines Einzelindividuums, sondern auch auf die Fortpflanzungsfähigkeit einer gesamten Population haben. So konnten Biologen in einer Vergleichsstudie nachweisen, dass ein Zusammenhang zwischen der Größe eines Vorkommens und ihrem Fortpflanzungserfolg existiert. An 22 neuseeländischen Vogelarten wiesen Biologen nach, dass der Bruterfolg umso geringer ist, je kleiner die Population ist (Briskie & Mackintosh 2004). 

Dabei konnten sie auch klare Grenzen identifizieren. Denn sank die Zahl der Individuen eines Vorkommens unter 600, ergab sich ein erkennbarer Abfall. Bestand sie aus nur noch 150 Exemplare, waren die Brutausfälle drastisch.

Genetische Verarmung beeinflusst Population

Unzureichende genetische Variabilität kann eine Population aber auch in Probleme führen, weil sie nicht mehr in ausreichendem Maße in der Lage ist, auf Veränderungen zu reagieren. Hohe genetische Varianz ist also die Voraussetzung dafür anpassungsfähig zu bleiben. Auf der anderen Seite kann genetische Verarmung im schlimmsten Fall dazu führen, dass eine Art ausstirbt und für immer verschwindet.

Um dies zu verhindern, haben Ökologen bereits in den 1980er-Jahren die sogenannte 50/500 Regel aufgestellt. Sie benennt die Grenze einer minimal lebensfähigen Population. Diese liegt danach bei 50 Individuen. Die Population soll aber mindestens 500 Exemplare umfassen, um genetische Verarmung zu verhindern und ihr Überleben langfristig zu sichern. In späteren Untersuchungen stellte sich dann jedoch heraus, dass diese Zahlen eher für Fisch- und Vogelarten zutreffen. 

Für Säugetiere dagegen werden höhere Werte benötigt. Kleine isolierte Populationen sind dabei besonders bedroht. Bei ihnen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Defektvarianten von Genen stärker verbreiten und sich auch phänotypisch ausprägen. Sogenannte Inzuchtdepressionen wurden in der Vergangenheit in verschiedenen Rotwildpopulationen in Deutschland nachgewiesen! Unter anderem in Hessen und Schleswig-Holstein.

Inzucht begünstigt Fehlbildungen

Als Hinweis auf Inzucht wurden in diesen Populationen Kälber mit verkürztem Unterkiefer (Brachygnathia inferior) festgestellt. Ist dieses Defektgen in der Population aber überhaupt nicht vorhanden, entsteht dieser Fehler nicht, auch wenn die Population hochgradig inzüchtig ist. Besonders deutlich werden genetische Fehler bei sogenannten Letalfaktoren, d.h. der Gendefekt bewirkt, dass das betreffende Individuum nicht lebensfähig ist. Eine für Wildtierpopulationen besonders problematische Situation ergibt sich bei Merkmalen, die durch zahlreiche Gene codiert werden.

Dabei bleiben einzelne Defektgene zunächst meist unbemerkt und die Veränderungen erfolgen schleichend. Im Ergebnis kann es zu mehr oder weniger deutlichen Einschränkungen bei der Fruchtbarkeit, Vitalität, Krankheitsresistenz und dem Anpassungsvermögen kommen (Reiner & Willems 2019). Die Untersuchungen dieser Autoren bestätigen in diesem Zusammenhang, dass der jährliche Inzuchtzuwachs bei kleinen Vorkommen am größten ist. Bleibt die Zahl der Stücke, die sich an der Reproduktion beteiligt unter 100, ist dies beim Rotwild besonders drastisch. Zwar erreichen die meisten Rotwildvorkommen in Deutschland diese Zahl und übersteigen sie zumeist sogar erheblich. 

Problematisch wirkt sich beim Rotwild und anderen haremsbildenden Arten allerdings aus, dass sich längst nicht alle Individuen an der Reproduktion beteiligen. Tatsächlich liegt die erforderliche Populationsgröße bei dieser Art bei 500 Stück Wild. Einer aktuellen Studie zufolge erreichen nur zwei der 34 in Deutschland untersuchten Rotwildvorkommen diese Zahl, die sie damit auch langfristig vor Inzucht schützt (Westekemper & Balkenhol 2022). 

Es gibt aber auch Gegenbeispiele, denn Inzucht kann als eine Art Züchtungsmethode gezielt eingesetzt werden. Labormäuse sind ein solches Beispiel. Durch Versuch und Irrtum und eine hohe Zahl an Zuchttieren können am Ende sehr vitale Linien mit den gewünschten Eigenschaften entstehen. Und das, obwohl sie hochgradig inzüchtig sind.

Es existieren aber auch sehr seltene Beispiele, in denen sich solche Vorgänge auch zufällig vollziehen. Dies hängt in hohem Maße von den Ausgangsindividuen einer Population ab. Passen ihre Anlagen gut zueinander, kann daraus ein Bestand entstehen, der gesund ist, obwohl die Gesamtzahl der Population gering ist und eine Inzucht besteht.

Inzucht als Gesundheitsfaktor

Das Chillingham-Rind in Großbritannien ist ein solches Beispiel. Es handelt sich dabei um eine verwildert lebende Rinderrasse, die aus nur noch zwei Herden besteht. Obwohl diese Rasse seit etwa 1700 und damit etwa 300 Jahre über viele Generationen genetisch isoliert ist, wurden bislang keine Anzeichen von Inzuchtdepressionen bei den Tieren der Herde festgestellt.

Beim Chillingham-Rind hat das Zusammentreffen vorteilhafter Gene zu zwei gesund Populationen geführt.
Beim Chillingham-Rind hat das Zusammentreffen vorteilhafter Gene zu zwei gesund Populationen geführt.

Ein weiterer bekannter Vertreter, der eine genetische Flaschenhalssituation überlebt hat, ist der Davidshirsch. Sein ursprüngliches Verbreitungsgebiet lag in sumpfartigen Lebensräumen Chinas, Koreas und Japans. Seine vermutete Aussterbezeit wird um die Zeit 200 nach Christus datiert. Danach überlebte der Hirsch allein in einem kaiserlichen Park in der Nähe Pekings. Das Rudel umfasste 120 Stück Wild. Alle heute noch in Zoos lebenden Davidshirsche gehen auf dieses Rudel zurück.

Der Mensch ist die größte Bedrohung

Die vorgenannten Beispiele von Arten, die sich trotz anhaltenden hohen Inzuchtgrades stabil und gesund halten, bilden jedoch seltene Ausnahmen von der Regel. Denn in den meisten Fällen geraten solche Vorkommen oder Populationen in Bezug auf Krankheiten, Fitness und Reproduktionsfähigkeit in größere Schwierigkeiten, an dessen Ende sogar der sogenannte Aussterbestrudel auf sie warten kann.

Handlungsbereitschaft gefragt

Unsere hoch verdichteten Landschaften mit ihrer permanenten baulichen und infrastrukturellen Entwicklung auf der einen Seite und die Folgen „rotwildfreier Gebiete“ auf der anderen Seite, müssen für das Rotwild als äußerst problematisch angesehen werden. Gefragt sind demnach neue großräumig gedachte jagdliche Konzepte, die durch eine sinnvoll vernetzende Landschaftsplanung mit intakten Wanderkorridore ergänzt werden. Gelingt die (Wieder-)Verbindung von Populationen, kann damit ein eminent wichtiger Beitrag zur Gesunderhaltung unsere Wildtierpopulationen geleistet werden – und das je früher desto besser!

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