Dr. Börner: Wir diskutieren in den letzten Jahren intensiv über Biodiversitätsverlust. Wurde der genetischen Gesundheit von Wildtierpopulationen in diesem Zusammenhang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt?
Prof. Reiner: Eindeutig ja. Gerade der Rothirsch wird häufig als eine Art „Lieblingstier“ der Jäger angesehen und aus der allgemeinen Biodiversitäts-Diskussion ausgeklammert. Viele Menschen sind der Meinung, dass es viel zu viel Rotwild gibt und verkennen dabei, dass es nicht auf die absoluten Tierzahlen einer Population, sondern auf deren genetische Vielfalt ankommt, wenn es um Anpassung und langfristiges Überleben von Arten geht.
Dr. Börner: Fehlbildungen als Zeichen für Inzucht kommen in vielen Rotwildpopulationen selten oder gar nicht vor. Gibt es dennoch Grund zur Sorge?
Prof. Reiner: Ob Defekte sich zeigen oder nicht hängt zum Einen davon ab, dass beide Elterntiere das Defektgen tragen und an den Nachkommen weitergeben, zum andern aber auch davon, ob das Defektgen überhaupt in der Population vorhanden ist. Sind Defektgene vorhanden und hinreichend in der Population verteilt, so werden mit steigenden Inzuchtgraden Defekte auftreten. Die Inzuchtgrade sind vorhanden und in allen betroffenen Populationen, auch in denen ohne das entsprechende Defektgen müssen wir mit einem Rückgang aller polygenen Merkmale wie Fruchtbarkeit, Anpassungsvermögen, Vitalität, Fitness und Krankheitsresistenz rechnen. Und diese sind am Ende wesentlich bedeutsamer als die aufgezeigten Fehlbildungen.
Könnte das Rotwild regional sogar aussterben?
Dr. Börner: In einigen Vorkommen ist die genetische Situation offenbar dramatisch. Innerhalb welcher Zeitspanne ist ein Aussterben möglich?
Prof. Reiner: Aussterben ist ein großes Wort. Aber wir finden Populationen, die so deutlich von Inzucht gezeichnet sind, dass sie nicht mehr als gesunde Population weiterexistieren können. Damit sind sie bedroht und müssen teilweise auch schon als verloren gelten. Und jede verlorene Population führt zur weiteren Einschränkung der Biodiversität dieser Spezies, weil eine Art letztlich vom Gefüge unterschiedlicher, ökologisch angepasster Populationen abhängt, die untereinander im genetischen Austausch stehen.
Dr. Börner: Über die Wichtigkeit des genetischen Austauschs wurde zuletzt intensiv berichtet. Wie groß sind derartige Korridore?
Prof. Reiner: Wir sehen Hirsche im Wald und glauben die Population sei ungestört – und wir sehen naturnahe Landschaften mit geringer Infrastruktur und glauben hier sei ungestörtes Wandern kein Problem. Mit den Augen der Geographen zeigt sich ein gänzlich anderes Bild. Die Wanderkorridore sind oft extrem schmal. Schon die Zunahme an Infrastruktur durch ein einzelnes Bauwerk an der falschen Stelle kann zum Einbruch des gesamten genetischen Austauschs führen. Doch meistens sind die genauen Korridore nichteinmal bekannt. So lassen sie sich in der Bauplanung auch nicht berücksichtigen.
Dr. Börner: Können wenige Jagdbezirke unter Umständen für eine Isolation sorgen? Müssen Abschusspläne bei großräumig lebenden Arten gemeinsam geplant werden um dies zu verhindern?

Prof. Reiner: Das zur Infrastruktur gesagte lässt sich eins zu eins auf die jagdlichen Aktivitäten in den Wanderregionen übertragen. Wir können schon heute nachweisen, dass ein wesentlicher Teil der Isolation zwischen Rotwildgebieten tatsächlich auf die Existenz rotwildfreier Gebiete zurückzuführen ist. Weil das Kernproblem des Rotwildes in der Isolation der Gebiete liegt, muss das gebietsweise Management als überholt angesehen werden. Anstatt Rotwildgebiete müssen Rotwildregionen übergreifend betrachtet und entwickelt werden.
Sollten wir Rotwild aussetzen?
Dr. Börner: Ist die gezielte Aus- und Umsetzung von Stücken sinnvoll? Welche anderen Maßnahmen können dem Rotwild aus genetischer Sicht helfen?
Prof. Reiner: Diese Methodik ist sicherlich die ultima ratio bei Arten, die kurz vor dem Aussterben stehen. Unsere Rotwildpopulationen sind jedoch trotz aller Inzuchtanzeichen in einer Situation in der sie sich noch selbst helfen können.
Die Steigerung der genetischen Vielfalt durch Aufhebung der Isolation ist jedoch ein hochdynamisches Geschehen, das nicht durch Verschiebung einzelner Individuen erreichbar ist. Simulationen zeigen, dass die effektive Populationsgröße durch Verbringung weniger Tiere nicht ausreichend beeinflusst wird. Versuche aus der Vergangenheit führten häufig nicht zum erwünschten Erfolg, weil die transponierten Tiere nicht zur Fortpflanzung kamen. Hinzu kommt die Funktion des Rothirschs als Leittierart. Wollen wir ganze Ökosysteme durch Tieraustausch verbessern?
Am Ende steht die ethische Frage danach, ob der Mensch die von ihm verursachten Schäden durch weitere intensive Eingriffe zu beheben versuchen sollte oder ob wir dadurch unsere Natur nicht zu einem überschaubaren Zoo oder Wildpark umfunktionieren. Wir sollten uns die Selbstheilungskraft der Natur zu Nutze machen. Eine Wiedervernetzung der isolierten Populationen und Lebensräume ist alles was es braucht, um die in den isolierten Gebieten verlorene genetische Vielfalt wiederherzustellen – nicht nur beim Rothirsch.