Forschung oder Märchen: Charaktereigenschaften von Tieren

Ist es möglich, bestimmten Tierarten charakteristische Persönlichkeitsmerkmale zuzuweisen oder gehört diese Praxis in die Welt der Fabeln und Märchen? Unser Wildbiologe erklärt, was dran ist am Mythos vom schlauen Fuchs und ängstlichen Hasen.
Wolf
Das Märchen vom bösen Wolf kennt jedes Kind, doch lassen sich Charakterschaften bei Tieren wissenschafltich nachweisen?

Tieren werden anekdotisch seit jeher gewisse Eigenschaften zugeschrieben. In Geschichten und Fabeln ist dann gern vom ängstlichen Hasen, dem schlauen Fuchs oder bösen Wolf die Rede. Außerhalb dieser Erzählungen ließen sich Charaktereigenschaften oder sogar Persönlichkeiten bei Tieren für lange Zeit jedoch nicht nachweisen. Selbst die wissenschaftliche Lehrmeinung lautete lange, dass sie im Wesentlichen wie „starre Maschinen“ arbeiten. Man ging davon aus, dass Tiere, die im gleichen Lebensraum leben, auch alle mehr oder weniger gleich „funktionieren“. Die Umwelt gibt die Rahmenbedingungen vor – und die darin lebenden Tiere sind an den Zustand angepasst und reagieren im Wesentlichen gleich darauf. Tieren Charaktereigenschaften zuzuweisen, war daher lange verpönt, galt sogar als unwissenschaftlich.

Disziplin der Forschung: Coping-Test

Die Persönlichkeitsforschung bei Wildtieren ist eine sehr junge Disziplin. Erst seit etwa 20 Jahren widmet man sich intensiver diesem Phänomen. Es stellte sich zunehmend heraus, dass verschiedene charakterliche Typen einer Art keineswegs nur Ergebnis natürlicher Schwankungen sind, sondern dahinter „System“ stecken musste. Mit der Einführung und Etablierung so genannter Coping-Tests wurde dann gezielt damit begonnen, verschiedene „Charaktere“ zu identifizieren. Im Einzelnen handelt es sich dabei um ein Instrument, das verwendet wird, um die Bewältigungsfähigkeiten zu bewerten.

Im einfachsten Fall werden die Tiere dabei in eine Zwangssituation gebracht, aus der sie sich nicht befreien können. Das Verhalten der Tiere wird dann analysiert, wobei besonders wichtig ist, wie intensiv sie sich gegen die Maßnahme wehren. Anhand der Ergebnisse dieser Tests lassen sich Rückschlüsse auf die Persönlichkeit der betreffenden Tiere ziehen.

Risiko oder langes Leben

Bei diesbezüglichen Studien an Mäusen konnte festgestellt werden, dass ein Zusammenhang zwischen der Risikobereitschaft und der Lebensdauer besteht. Während einige Exemplare vorsichtig waren und größere Gefahrensituationen mieden, waren andere Tiere deutlich eher bereit, sich auf bestimmte Risiken einzulassen. Dies führte unter anderem dazu, dass sie Nahrungsquellen besser ausnutzten. Während die ängstlichen Mäuse stets weniger fraßen, war ihr Risiko von einem Fressfeind erbeutet zu werden dagegen reduziert.

Wildbiologe Dr. Christof Janko beim Vermessen und Besendern.Bereits bei der Besenderung lassen sich erste Thesen zum Charakter eines Tieres herleiten.
Wildbiologe Dr. Christof Janko beim Vermessen und Besendern.Bereits bei der Besenderung lassen sich erste Thesen zum Charakter eines Tieres herleiten.

Wie sich in anderen Versuchen herausstellte, sind es die mutigen Individuen, die besonders gut darin sind, offensiv mit neuen Situationen umzugehen. Sie sind auch eher bereit, neue Lebensräume aufzusuchen.

Dies kann für diese Exemplare natürlich von besonderem Vorteil sein, wenn es ihnen gelingt, sich in neuen Bereichen zu etablieren. Auf der anderen Seite haben sie auch ein höheres Mortalitätsrisiko als ihre konservativen Artgenossen. Diese Tiere haben, wie die Untersuchungen auch zeigen, zudem oft Vorteile bei der Lösung von Problemen. Jede Strategie hat also seine Vor- und Nachteile.

Charakter und Lebenslaufstrategie

Entscheidend ist dabei, dass sich diese Eigenschaften auch in unterschiedlichen Lebenslaufstrategien widerspiegeln. Das bedeutet konkret, dass der Charakter das Verhalten beeinflusst. Bei Rehen, die für eine Raumnutzungsstudie gefangen und fixiert werden mussten, erfasste man bei der Besenderung auch den „Coping-Typ“. Später suchte man Zusammenhänge zwischen dem Charakter und der Lebenslaufstrategie. Dabei konnte man nachweisen, dass Ricken, die mehr Widerstand bei der Besenderung leisteten, auch im Leben offensiver mit den diversen Situationen und Herausforderungen umgingen. So erwiesen sie sich als durchsetzungsfähiger bei der Besetzung guter Reviere und aggressiver in der Verteidigung ihrer Kitze.

Raumnutzungsanalysen bei Füchsen

In eigenen Untersuchungen an Füchsen konnte ich ebenfalls gewisse Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und Strategien sammeln. Fing ich Füchse, um sie zu besendern, ließen sich bereits bei dem in der Falle sitzenden Fuchs Hinweise auf seinen Charakter ziehen. Während sich einige am hinteren Ende der Falle drückten, reagierten andere sehr aggressiv auf meine Anwesenheit. Bei den Raumnutzungsanalysen stellte sich dann heraus, dass es die aggressiven Füchse waren, die eher dazu neigten, zeitig aus den elterlichen Streifgebieten abzuwandern. Noch erstaunlicher war, dass es genau diesen Exemplaren deutlich schneller gelang, ein eigenes Territorium zu besetzen, das in der Regel auch größer war als die der zurückhaltenden Füchse. Auch wenn die diesbezüglichen Daten aufgrund der zu geringen Stichprobenzahl nicht repräsentativ sind, ermöglichen sie gewisse Einblicke in die geheimnisvolle Charakterwelt von Wildtieren.

Charaktereigenschaft bei Auswilderung

Die charakterlichen Eigenschaften auszuwildernder Tiere können individuell stark variieren. Während man in der Vergangenheit hauptsächlich auf körperliche Robustheit fokussiert war, erkennt man nun zunehmend auch die Bedeutung von charakterlichen Merkmalen. Diese können den Erfolg von Auswilderungsprojekten positiv beeinflussen.

Der Charakter hat aber auch etwas mit der Fähigkeit zur Stressbewältigung zu tun. Soziale Isolation kann für gruppenlebende Arten, beispielweise Wildschweine, ein sehr stressiges Ereignis darstellen. Es ist bekannt, dass die einzelnen Mitglieder mit derartigen Ereignissen aufgrund unterschiedlicher charakterlicher Profile verschieden umgehen. In einem Versuch an Hausschweinen wollte man es genauer wissen (Reimert et al. 2014). Dabei untersuchte man, inwieweit sich soziale Unterstützung (Anwesenheit eines Stallgefährten) bei stressigen Ereignissen (zuvor gefesselte Versuchstiere) auswirkt. Die Ergebnisse des Versuches zeigten, dass alle Schweine von sozialer Unterstützung während derartiger Situationen profitieren. Denn die Abwehrreaktionen fielen gedämpfter aus, wenn ein Artgenosse in der Nähe war. Besonders interessant ist, dass sich auch dabei charakterliche Unterschiede aufzeigen ließen. Denn nervenschwache Tiere profitierten dabei in besonderem Maße.
In vielen Fällen bleiben charakterliche Merkmale ein Leben lang erhalten. Allerdings können geänderte Lebensumstände einen Einfluss auf diese Eigenschaften ausüben.

Risikobereitschaft und Lebensbedingungen

Dieser Sachverhalt konnte zuletzt bei verschiedenen Arten nachgewiesen werden. Grundsätzlich sollten Tiere der Theorie nach bereit sein, ein höheres Risiko einzugehen, wenn sich ihre Lebensbedingungen verschlechtern. Andersherum sollten sie Risiken meiden, wenn die Bedingungen günstig sind. In einem Versuch an Kohlmeisen verbesserte man künstlich die Nahrungsbedingungen der Vögel. Im Ergebnis wurden die Tiere vorsichtiger und scheuer. Die biologische Logik, die dahintersteckt, ist schlicht: Gute Bedingungen verbessern das Fortpflanzungspotential, und dies darf durch unvorsichtiges Verhalten nicht gefährdet werden. Andersherum verhält es sich bei ungünstigen körperlichen oder lebensräumlichen Bedingungen. Dann sind die Tiere risikobereiter, da sie ohnehin nicht viel zu verlieren haben.

Flexibel und anpassungsfähig bleiben

Die Persönlichkeitsforschung bei Wildtieren wird noch viele Phänomene aufklären können. Inwieweit sich dabei auch die so genannten Big Five (Offenheit gegenüber Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, emotionale Stabilität und Verträglichkeit) des Menschen nachweisen lassen, bleibt bis hierhin ungeklärt. Fest steht jedoch, dass unterschiedliche Charaktere dabei helfen, flexibel und anpassungsfähig zu bleiben und somit auf veränderte Bedingungen reagieren zu können. Besonders bei gruppenlebenden Arten können unterschiedliche charakterliche Eigenschaften dazu führen, dass man sich in seinen Eigenschaften gegenseitig sinnvoll ergänzt und als Gruppe zu „besseren Entscheidungen“ kommt.

Charakterprägung im Mutterleib

Wie Untersuchungen zweifelsfrei belegen, beginnt sich der Charakter von Meerschweinchen bereits sehr früh zu prägen. Während der Entwicklung im Mutterleib üben verschiedene Faktoren wie Hormone und Umgebungsreize Einfluss auf die Entwicklung des Charakters aus. Werden Meerschweinchen während der Trächtigkeit immer wieder mit fremden Artgenossen konfrontiert, dann zeigen sich die weiblichen Nachkommen später besonders aggressiv. Man geht davon aus, dass die Tiere damit auf die spätere Umgebung vorbereitet werden.

Es ist wahrscheinlich, dass auch andere Prozesse auf diese Weise beeinflusst werden. Es ist also denkbar, dass zum Beispiel auch bei trächtigen Hündinnen Umweltinformationen auf die heranreifenden Embryonen übertragen werden. Hat eine Hündin also weiterhin Kontakt zu Wild, werden die Föten bereits in dieser frühen Phase ihrer Entwicklung darauf geprägt.

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