Walt Disney ist an allem schuld: An der Bambi-Mentalität und daran, dass der Durchschnittsdeutsche den Unterschied zwischen Hirsch und Reh nicht kennt. Als Disney nämlich 1942 seinen Zeichentrickfilm in die Kinos brachte, konnte niemand ahnen, dass Bambi eine kleine Kulturrevolution auslösen würde. Dabei floppte der Spielfilm anfangs sogar und der Produzent blieb auf seinen Kosten sitzen. Es dauerte einige Jahre, bis sich herausstellte, dass der Filmemacher mit Bambi eines seiner bedeutendsten Werke geschaffen hatte.
Dabei hatte Disney die Geschichte noch nicht einmal selbst erfunden, sondern die Rechte dem österreichischen Bücherschreiber und passionierten Jäger Felix Salten abgekauft. Salten, mit bürgerlichem Namen Siegmund Salzmann, publizierte in den 1920er Jahren den Roman, in dem ein kleines Rehkitz namens Bambi die Hauptrolle spielte. Der Roman war so erfolgreich, dass er wenige Jahre später für den amerikanischen Buchmarkt ins Englische übersetzt wurde. Und da es auf der anderen Seite des Ozeans keine europäischen Rehe gab, wurde aus dem jungen Rehbock flugs ein kleiner Weißwedelhirsch.
In der deutschen Synchronfassung des Kinostreifens, der Anfang der 50er Jahre sozusagen reimportiert wurde, verwandelte sich Junghirsch Bambi wieder in ein Rehkitz. Bambis Vater blieb jedoch ein Weißwedelhirsch. Wildbiologische Zusammenhänge gab es im weichgespülten Massenkino einfach nicht. Seitdem ist die Verwirrung perfekt, und viele Deutsche glauben, dass das Reh die Frau vom Hirsch sei.
1.000 US-Dollar
… soll Felix Salten von Disney für die Filmrechte an Bambi erhalten haben. Er war zu diesem Zeitpunkt vor den Nazis in die Schweiz geflüchtet und brauchte Geld.
Mehr als sechs Jahre arbeiteten Walt Disney und sein Team überaus akribisch an den Zeichnungen. Und sie hielten auf dem Studiogelände nicht nur Hirsche, deren Wachstum man mit dem Skizzenblock in der Hand verfolgte: Auch Bambis Filmfreunde wie Kaninchen und Stinktiere gehörten zu dem kleinen Zoo. Gleichzeitig wurden Gestik und Mimik von Kleinkindern studiert, um sie auf die Hauptdarsteller zu übertragen. Zusammen wollte man so menschliche Gefühle und Regungen auf die Tiere übertragen, ohne dass diese ihre typischen Bewegungen einbüßten.
Ein Fotograf wiederum dokumentierte die üppigen Wälder des Bundesstaates Maine, die als Vorbild für die Hintergründe des Filmes dienten. Für die dreidimensionalen und damals authentisch wirkenden Hintergründe wurde extra für Bambi ein neues Zeichenverfahren entwickelt. Im Film werden weniger als 1.000 Worte gesprochen, dafür gibt es in Dauerschleife passend zu jeder Sequenz säuselnd romantische Chöre.
Eine perfekt inszenierte Idylle also, in der jedes Tier mit Geweih noch den liebenden Vater sowie Beschützer darstellt, alle Waldbewohner nur an Grashalmen kauen und die Hirsche schon im Frühjahr die Brunft erleben. Der einzige Störenfried des perfekten Paradieses ist der geheimnisvolle schier übermächtige und ruppige Waidmann mit seinen bösen Absichten, der im Film aber nie direkt zu sehen ist.
Bambi Erfinder war Jäger
Eine simple Vorlage bot der Film für alle Jagdgegner, um ihre Standpunkte einer perfekten Natur zu untermauern. Dabei weiß kaum jemand, dass der Erfinder des Bambis ein passionierter Jäger und kein naiv verträumter Naturliebhaber war. Felix Salten schrieb den Roman während eines Sommerurlaubes im Salzkammergut und verfolgte mit dem Märchen durchaus auch pädagogische Absichten. „Ich wollte meine Leser von dem Irrtum befreien, die Natur sei ein sonniges Paradies“, berichtete der österreichische Schriftsteller später. Sein Vater war ein ungarisch-jüdischer Ingenieur, der mit seiner Familie kurz nach der Geburt des Jungen – am 6. September 1869 in Budapest – nach Wien zog.
Salten besuchte das Gymnasium ohne Abschluss und begann im Alter von 16 Jahren bei einer Versicherung zu arbeiten. Schon in jungen Jahren entdeckte er die Liebe zu Vierbeinern und zur Jagdhundeausbildung. Bereits 1889 veröffentlichte Salten ein erstes Gedicht in einer Literaturzeitschrift. Ab diesem Zeitpunkt machte er sich in der Wiener Schickeria einen Namen, arbeitete international für einige namhafte Printmedien und schrieb erfolgreiche Tiergeschichten, Gesellschaftsromane, Reportagen, Theaterstücke sowie Enthüllungsbücher über das österreichische Kaiserhaus.
Verklärte Welt
Das „American Film Institute“ führt den Jäger, der Bambis Mutter erlegte, auf Platz 20 der größten Filmschurken der vergangenen 100 Jahre. Damit liegt er vor Terminator, Dracula und Freddy Krueger.
Eine Geschichte für Pseudo-Naturfreunde
Eigentlich war die Bambi-Geschichte eine Geschichte für all die Pseudo-Naturfreunde, die keine Ahnung hatten von der Realität. Auf den ersten Blick mag das Original kindlich und verträumt wirken, doch auf den zweiten Blick erkennt man, dass diese Erzählungen nur jemand verfassen konnte, der die Natur genau und über Jahre studiert hatte. Es offenbart eine reale Darstellung, was es für ein Tier bedeutet, im Wald zu leben sowie zu überleben, und wie nahe Freud und Leid beieinander liegen können, wie z.B. der Verlust der Mutter für Bambi.
Salten berichtet im Detail, was er selbst auf der Jagd alles erlebte, wie die Vögel von den Ästen zwitschern oder der Hase nach dem Schuss über die Wiese rouliert. Er lässt seine Erlebnisse geschickt in die Geschichte einfließen. „Bambi wäre niemals entstanden, hätte ich nicht meine Kugel auf das Haupt eines Rehbocks oder Elches gefeuert“, räumt Salten offen ein und bekennt unverblümt an anderer Stelle, er habe wohl zahlreiche Bambis im Laufe seines Lebens erlegt. Ebenso dürfte sein Revier im niederösterreichischen Stockerau zwischen den Auwäldern der Donau Vorlage für manche Buchszene gewesen sein.
Harte Wahrheit der Natur
Es ist erstaunlich, wie Felix Salten schon damals die Zeichen der Zeit erkannte und über angebliche Naturliebhaber spöttelte: „Naturfreunde sind in Wahrheit Naturfremde. Sie haben keine Ahnung von der täglichen Gewalt in der Wildnis.“ Somit war die Lebensgeschichte von Bambi eigentlich keine kindliche Fabel oder unreale Geschichte, sondern die harte sowie schonungslose Wahrheit der Natur. Überlebenschancen hat nur jenes Lebewesen, das seinen Rivalen durch Vorsicht, Klugheit und Respekt zu überlisten weiß, denn der Wald kennt weder Wohlwollen noch Gnade.
Im Gegensatz zu Walt Disney verstand Felix Salten als leidenschaftlicher Jäger die Sprache der Natur perfekt und wollte sie bewusst für den Leser nicht verherrlichen. Als einzigartiger Schriftsteller, Autor und Waidmann waren Saltens letzte Lebensjahre leider von finanziellen Problemen geprägt, bis er am 8. Oktober 1945 in Zürich starb.