Der Anruf kam während der Arbeit. „Gestern Nacht wurde eine Sau beschossen. Kannst du bitte kommen?“ Für die Antwort muss Anne nicht lang überlegen. Gleich nach ihrer Frühschicht wird sie sich mit ihrer Alpenländischen Dachsbracke auf den Weg machen. Den genauen Standort hat man ihr übers Handy geschickt – wie so oft, wenn die Nachsuchenführerin um Hilfe gebeten wird.

Die Sache mit dem Anschuss
Es ist kurz nach Mittag, als sich Anne mit dem Revierpächter am vereinbarten Standort trifft. Während sie sich ihre Nachsuchenausrüstung anlegt und Hündin „Helga“ Schutzweste und Tracker anzieht, lässt sich die 37-jährige Frau erklären, was in der vergangenen Nacht passiert war. Eine gemischte Rotte sei aus dem angrenzenden Wald auf den Acker gezogen, berichtet der Jäger. Gegen 22.30 Uhr habe der Schütze dann einen abseits stehenden Überläufer beschossen. Nach dem Schuss flüchtete die ganze Rotte in den Wald zurück, der Überläufer jedoch etwas versetzt. Einen genauen Anschuss habe man nachts auf dem Acker nicht finden können.
Helga - die hirschrote Lokomotive
„Wir lassen ,Helga‘ einfach mal quersuchen. Sie wird den Abgang schon finden“, erklärt Anne und läuft Richtung Waldrand. Als ob die Hündin jedes Wort verstanden hätte, sucht sie akribisch Meter für Meter ab. Plötzlich zieht „Helga“ an. „Ich glaube, sie hat die Fährte gefunden“, ruft die Sächsin dem Jäger zu. Nach einigen Metern im Hochwald führt die Fährte in Richtung eines sumpfigen Quellgebiets. Ein „Schweine-Paradies“, kommentiert der Begleiter. Suhlen, Trittsiegel und Gebräch zeigen, wie wohl sich die Schwarzkittel hier fühlen. Doch die erfahrene Hündin lässt sich davon nicht beirren. Wie eine hirschrote Lokomotive arbeitet sie die Fährte aus.
Nachsuche: Das Interesse wird geweckt
Zur Jagd kam Anne über ihren damaligen Lebensgefährten. Oft hat sie ihn auf den Sauenansitz begleitet, als dann endlich ein Schwarzkittel fiel, wurde sie sofort vom Jagdfieber gepackt. „Ich hab gedacht, ich kipp vom Stuhl“, gibt sie grinsend zu. Schließlich hat sie 2015 selbst das „Grüne Abitur“ absolviert. Die Faszination für Sauen ist seitdem noch gestiegen – vor allem für die nächtliche Pirsch auf die Schwarzkittel.

Die Initiation zur Nachsuche
Eines Tages hatte sie so auch auf einen gescheckten Überläufer geschossen, der allerdings im angrenzenden Maisfeld verschwand. Die Aussage eines hinzugerufenen Nachsuchengespanns, die Sau hätte nichts weiter, stellte die Jungjägerin damals nicht zufrieden. Und wie es der Zufall wollte, konnte der Schecke mit einem alten Gescheideschuss wenig später bei der Maisernte erlegt werden. Ihr Interesse an der Nachsuchenarbeit war geweckt. Irgendwie müsse man das doch selbst auch schaffen, grübelte sie damals mehrere Wochen.
Hightech trifft auf Handwerk
Das Gespann nähert sich der ersten Dickung. Fichten reihen sich wie Soldaten dicht an dicht. Anne bittet den Pächter, auf dem Rückeweg zu warten. Wer weiß, was das Gespann dort erwartet? Ob sich die Sau bereits gesteckt hat? Das Knacken der Äste verrät, wo sich Anne befindet. Dann wird es still. „Du kannst kommen“, ruft die Jägerin ihrer Begleitung zu. Gemeinsam folgen sie der Hündin noch einige hundert Meter, bis Anne erneut stehen bleibt. Sie zieht ihr Handy aus der Tasche, das per App mit dem Tracking-Halsband des Hundes verbunden ist. Da sich die Nachsuchenführerin sicher ist, dass die Sau noch lebt und es zu einer Hatz kommen kann, schickt sie ihren Begleiter zurück, um das Auto nachziehen.

Das Vertrauen ins Tier
„,Helga‘! Ist das verwund?“, fragt Anne energisch und bleibt stehen. Die fünfjährige Dachsbracke bleibt stramm im Riemen und würdigt ihre Führerin keines Blickes. Bislang hat Anne nur vereinzelt Trittsiegel des Überläufers gefunden. Schweiß oder andere Pirschzeichen fehlen völlig. Würde sich „Helga“ nun umdrehen oder gar zurückkommen, ist es nicht die richtige Fährte. Doch sie bewegt sich keinen Zentimeter. Also weiter!
Vom Welpen zum Nachsuchenhund
„Helga“ heißt eigentlich „Clara vom Keltenbogen“. Sie ist Annes erster Hund. „Der Anruf vom Züchter kam an meinem Geburtstag. Das war das schönste Geschenk“, sagt sie und strahlt. Wenige Wochen später zog die Hündin bei ihr ein. Bereits im Welpenalter hat sie „Helga“ mit dem Schwerpunkt „Schweiß“ ausgebildet. Über den Verein Dachsbracke legte sie mit ihr die Anlagen- und Gebrauchsprüfung sowie eine Fährtenschuhprüfung (20 Std.) ab.
Ein Haushalt voller Schweisshunde
Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Michael Völker, der zwei BGS führt, hat sich Anne voll und ganz dem Nachsuchenwesen verschrieben. Doch nicht nur das: Michael hat Anne auch bei ihren ersten Würfen als Züchterin unterstützt. „Ohne ihn wäre das nicht möglich gewesen“, verrät sie. Und so kam es, dass sich Anne aus dem B-Wurf ihres Zwingers „von der Fährtentreue“ die Hündin „Bea“ behalten hat. Sie befindet sich derzeit in Ausbildung und soll eines Tages in die Fußstapfen ihrer Mutter treten.
Deprimierend: Das Gesetz steht im Weg
Bereits völlig durchnässt und mit Fichtennadeln übersäht, verschwindet das Gespann in einer Buchenverjüngung. Einzelne Schneekissen verraten, dass hier Sauen gewechselt sind. Plötzlich bleibt Anne stehen. „Da!“, sagt sie überrascht und schaut zu Boden. „Da ist Schweiß!“ Die weiße Pracht hat wenige Tropfen aufgesogen, sodass sie kaum noch zu erkennen sind. „Helga“ hat also Recht! Der erste gefundene Schweiß nach 2,8 Kilometer Riemenarbeit gibt Anne neue Motivation, ihrem Hund zu folgen. Zügig arbeitet die Dachsbracke weiter.
Bislang hat das Stück Schwarzwild keine Möglichkeit genutzt, sich einzuschieben. Es folgt stets der Rotte, die nun über eine kleine Waldwiese in einen dichten Schlehenkomplex am Waldrand wechselte. Auf allen Vieren krabbelt Anne „Helga“ die ersten Meter hinterher. Irgendwann entscheidet sie sich, die Dickung zu umschlagen. In der dichten Dornenhecke wäre ein direkter Kontakt mit dem vermutlich noch sehr mobilen Überläufer zu gefährlich. Und tatsächlich: Auf der anderen Seite sind die Sauen wieder ausgewechselt.
Die Sache mit der Grenze
„Helga“ fällt die Krankfährte sofort wieder an. Doch da wartete schon die nächste Gefahr: eine Straße. Das Rauschen war bereits im Bestand zu hören. Dicht an dicht brausen die Autos am Gespann vorbei. „Straßen sind eine der größten Gefahren bei der Nachsuche“, weiß Anne. Sie passt einen ruhigen Moment ab und rennt über die Fahrbahn. In diesem Moment stößt ihr Begleiter wieder dazu. „Anne!“, ruft er, „Wir sind hier an der Reviergrenze. Wir müssen erst den Pächter herausfinden und informieren.“ Eine Suche, die sich an diesem Tag als erfolglos herausstellen wird. „Das ist so deprimierend, wenn du plötzlich nicht mehr weitersuchen kannst“, ärgert sich die Hundeführerin.
Tierschutz versus Bürokratie
Denn anders als in Bundesländern wie z.B. Thüringen dürfen in Sachsen Nachsuchengespanne nicht ohne weiteres über Reviergrenzen hinwegarbeiten. Das Überwechseln muss dem Jagdausübungsberechtigten (oder dessen Vertreter) des Nachbarreviers unverzüglich gemeldet werden, andernfalls muss das Gespann mit rechtlichen Konsequenzen rechnen. Und selbst dann ist es nicht sicher, ob die Suche fortgesetzt werden darf. Das alles kostet wertvolle Zeit. Zeit, in der das kranke Stück nicht von seinem Leid erlöst wird. Sollte doch der Tierschutz oberste Priorität haben. Daher hat sich Anne vor Kurzem auch von der Liste der anerkannten Gespanne nehmen lassen. „Du hast derzeit keine Vorteile davon. Keine rechtliche Sicherheit, nichts!“, sagt sie. Deprimiert steigt Anne mit „Helga“ ins Auto des Begleiters. Für die beiden ist an dieser Stelle Schluss. Doch schon bald klingelt das Handy erneut…