Abendansitz, Mitte Mai – Jäger Hubert hat es sich auf dem „Ginstersitz“ bequem gemacht. Die offene Fläche vor der Kanzel ist mit Schwarzdorn und Ginster bewachsen. Sie bietet dem Schwarz-, Reh- und Rotwild reichlich Deckung. Auf Letzteres hat es der Jungjäger heute abgesehen. Beständer Robert hatte zu Beginn des neuen Jagdjahres Druck gemacht und betont, dass dieses Jahr der Abschuss unbedingt erfüllt werden müsse. Gleich zum Aufgang der Jagdzeit sollten die Begeher versuchen, einige Schmaltiere zu erlegen.
Richtiges Ansprechen: Im Zweifel den Finger gerade lassen
Halbrechts nimmt Hubert plötzlich eine Bewegung wahr. Ein einzelnes Stück Rotwild verhofft auf etwa 100 m in einer Lücke zwischen dem Ginster. Eindeutig weiblich. Vom Gebäude her macht es einen schwachen Eindruck. Die Decke ist struppig. Eine Spinne ist schräg von hinten nicht zu erkennen. Das Stück äst sich langsam durch die Fläche. Nirgends ist ein Kalb zu sehen. Das muss ein Schmaltier sein. Nach zehn Minuten entschließt sich der Jäger zum Schuss. Das Fadenkreuz ruht auf dem Blatt. Der Finger will sich gerade krümmen – doch was ist das? Eine Bewegung zwischen den Keulen des Stückes lässt dem Waidmann schlagartig das Blut in den Adern gefrieren. Vermutlich hat das Tier sein abgelegtes Kalb dort abgeholt. Abwechselnd wird Hubert heiß und kalt. Schweiß steht ihm auf der Stirn. Mit zittrigen Fingern sichert er die Waffe und atmet tief durch. „Das war verdammt knapp“, sagt er zu sich selbst und ist heilfroh, dass er nicht schon früher geschossen hat.

Durch richtige Jagd einen Teufelskreis verhindern
Aufgrund der Synchronisation der Jagdzeiten ist es in zahlreichen Bundesländern mittlerweile möglich, im Mai und teilweise sogar bereits im April neben dem Rehwild auch Rot- und Damschmalwild zu bejagen. Das ist sinnvoll, denn im Frühjahr ist es noch relativ einfach, Schmaltiere und Schmalspießer anzusprechen. Außerdem sitzen viele Waidmänner ohnehin auf Rehwild an. Hinzu kommt, dass die Vegetationsphase am Anfang ist. Besonders im Wald hat der Jäger noch ausreichend Sicht. Allerdings ist es in dieser sensiblen Jahreszeit enorm wichtig, so wenig wie möglich zu stören. Die Stücke kommen ausgezehrt aus dem Winter und stürzen sich förmlich aufs frische Grün, das sie dringend benötigen, um ihre Energiespeicher zu füllen. Dafür müssen sie sich möglichst frei bewegen können. Achtung: Wird zu straff gejagt, auf wichtigen Äsungsflächen Dampf gemacht oder in große Rudel hineingeschossen, verändert sich das Raum-Zeit-Verhalten des Wildes. Die Stücke trauen sich nicht aus den Dickungen heraus, und das hat Folgen: Wildschäden im Wald. Schnell wird dann der Ruf nach noch strafferer Bejagung laut – ein Teufelskreis, bei dem immer das Wild der Leidtragende ist!
Ansprechen: So geht's!
- kurzes/kindliches Haupt
- hochläufig
- Muskelpartien an den Blättern und Keulen wenig ausgeprägt
- gerade Bauch- und Rückenlinie
- schlanke Figur
- geringes Wildbretgewicht
- unbedarft/vertraut
- dünner Träger
- frühes Verfärben
- kaum hervortretender Brustkern
- Schmaltier: kein Gesäuge
- Damschmalspießer (Mai): Kleine „Fellknöpfe“ geschoben mit möglichem Spießansatz (Bast)
- Rotspießer (Mai): In der Regel nur kleine „Fellknöpfe“ geschoben. Je nach Region auch schon Spießansatz möglich (Bast).
- Achtung: Je nach Setzzeitpunkt kann die Entwicklung der Spieße sehr unterschiedlich sein.
Zwei Wochen Zeit
Sowohl beim Rot- als auch beim Damwild schlagen die Alttiere vor dem Setzen ihren Nachwuchs aus dem Vorjahr ab. Diesen Zeitraum von etwa zwei Wochen gilt es jagdlich zu nutzen. Eine gewisse Zeit nach dem Setzen vereinen sich wieder zum Familienverband. Dieses sogenannte Gynopädium besteht aus Alttier, Kalb und Schmaltier. Je nach Revier und Wilddichte schließen sich diese einzelnen Familienverbände wieder zu größeren Rudeln zusammen. Achtung: Meistens befinden sich die Schmaltiere und Schmalspießer, nachdem sie vorübergehend vom Alttier abgeschlagen wurden, immer noch in dessen unmittelbarer Nähe. Sie haben weiterhin eine enge Bindung zu ihrer „Mutter“. Das Alttier bekommt die Erlegung zwar nicht direkt mit. Falsches Verhalten nach dem Schuss seitens des Jägers kann das Wild nachhaltig vergrämen.

Auf diese Altersmerkmale sollten Sie achten
Egal ob Rot- oder Damschmalwild, männlich oder weiblich – es gibt gewisse körperliche Merkmale, die einjährige Stücke von mehrjährigen unterscheiden. Tipp: Der erste Blick sollte immer dem Habitus bzw. dem Stück insgesamt gelten. Wie ist der erste Eindruck? Wirkt es eher jugendlich oder erwachsen? Ein geübter Jäger erfasst häufig sofort, dass es sich beispielsweise um ein Schmaltier handelt. Dieser geübte Blick entwickelt sich über die Jahre, je mehr Wild man in Anblick bekommt. Erfahrung ist also enorm wichtig! Folgende körperliche Merkmale sind für Jährlinge typisch: kurzes/kindliches Haupt, hochläufig, Muskelpartien an den Blättern und den Keulen wenig ausgeprägt, gerade Bauch- und Rückenlinie, schlanke Figur, geringes Wildbretgewicht, unbedarft/vertraut, dünner Träger, frühes Verfärben, kaum hervortretender Brustkern. Die Vorderläufe stehen eng nebeneinander. Stücke sehen deshalb spitz von vorn „schmal“ aus.
Die Fallstricke bei Schmalspießern
Schmalspießer beim Rot- und Damwild im Mai anzusprechen, ist für versierte Jäger einfach. Für unerfahrene Waidgesellen warten einige Fallstricke. Neben den beschriebenen körperlichen Merkmalen gilt der Blick bei den männlichen Stücken dem „Geweih“. Rotspießer können im Mai lediglich kleine „Fellknöpfe“ oder in seltenen Fällen bereits lange Spieße geschoben haben. Manchmal sieht man auch noch gar nichts (Regionalität beachten!). Schiebt ein Stück Augsprossen-Ansätze, handelt es sich sehr wahrscheinlich um einen Hirsch vom 2. oder 3. Kopf. Es besteht Verwechslungsgefahr zwischen den Altersklassen!

Ansprechen: Die Krux beim Damwild
Bei den Damschmalspießern ist es noch ein wenig komplizierter. Im Mai kann es nämlich passieren, dass ein vermeintlicher Spießer mit verfegten Spießen in Anblick kommt. Achtung: Bei diesem Stück handelt es sich eindeutig um einen Hirsch vom 2. Kopf, der seine Spieße erst im Laufe des Mais oder sogar erst im Juni abwirft. Damspießer (1. Kopf) haben im Mai in der Regel nur kleine behaarte Knöpfe geschoben. Bei starken Stücken sind bereits Spieße (Bast) erkennbar.
Rot- und Damwild: Hier heißt es aufgepasst
Beim Abschuss von Rot- und Damschmaltieren ist extreme Vorsicht gefragt. Starke Schmaltiere und junge, geringe Alttiere können sich ähneln. Bei einem Fehlabschuss, also der Erlegung eines Alttieres, gibt es drei Szenarien. 1. Man hat Glück, und es handelt sich um ein nicht führendes Alttier. Wildbiologisch wäre das kein Problem bzw. ein sinnvoller Abschuss. Jagdrechtlich handelt es sich um ein Schonzeitvergehen (Ordnungswidrigkeit). 2. Das Alttier hat inne. Spätestens beim Aufbrechen bzw. beim Anblick des fast „fertigen“ Kalbes sollte jeder vernünftige Jäger in sich gehen. Rechtlich bewegen wir uns noch immer im Rahmen eines Schonzeitvergehens. 3. Das Tier ist führend. Jetzt wird es „hässlich“, denn das Kalb ist dem Tode geweiht. Geschichten, dass andere Stücke die Waisen adoptieren, sind Ammenmärchen, um das Gewissen zu beruhigen. Fakt ist: Die Kälber verdursten bzw. verhungern kläglich. Versuchen Sie in den folgenden Tagen alles, um das Kalb zu erlösen. Auch rechtlich hat ein solcher Fehlabschuss eine andere Tragweite. Es handelt sich um eine Straftat! Achtung: Beim Rot- und Damwild ist die Spinne weniger ausgeprägt, als das beim Rehwild der Fall ist. Es könnte außerdem sein, dass das Kalb zuvor gesäugt wurde und das Gesäuge somit leer/nicht sichtbar ist.
Richtig Ansprechen lässt sich nur mit Blick aufs große Ganze
Fazit: Die Jagd auf Rot- und Damschmalwild im Frühjahr hat Vor- aber auch viele Nachteile. Beim Ansprechen und der Bejagung sollten immer die örtlichen Revierverhältnisse einbezogen werden. Beispielsweise ist ein Rotschmaltier in den Alpen deutlich geringer als ein Schmaltier in Flachland. Oder: Im Feldrevier muss anders gejagt werden als im Wald. Verlassen Sie sich beim Ansprechen nie auf ein einziges Merkmal. Erst die Summe ergibt ein schlüssiges Bild. Seien Sie sich bewusst, dass Ihre Handlungen unmittelbaren Einfluss auf das Wild haben. Jagen Sie mit Sinn und Verstand und dem Herzen. Entscheidend ist, dass immer das Wohl des Wildes und nicht eigene jagdliche Interessen im Vordergrund stehen!