Leichter Nieselregen setzt ein. Der Wind wirbelt die streichholzlangen graubraunen Haare von Ulf (Name geändert) umher. Der mittelgroße Mann steht am Rand einer rund 96 Fußballfelder großen Grünfläche und blickt melancholisch durch seine eisgrauen Augen über die leeren Weiten. „Hier standen früher meine 120 Mutterkühe und ihre Absetzer. Seitdem der Wolf da ist, geht das nicht mehr“, murmelt er. Ulf ist Landwirt in sechster Generation. Sein Ackerbau- und Milchkuhbetrieb liegt in der Prignitz, im Nordwesten Brandenburgs. Neben der Landwirtschaft unterhält der 53-Jährige 60 ha Privatforst, in dem er auch selbst zur Jagd geht. Seit der Wolf da ist, hat sich sein Leben zum Schlechten verändert
Vor gut 150 Jahren ist der Wolf aufgrund der direkten Verfolgung durch den Menschen aus Deutschland verschwunden. Mittlerweile ist das Großraubtier wieder zurück, und die Population wächst stetig. Laut dem Bundesamt für Naturschutz (BfN) und der Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf (DBBW) wurden für das Monitoringjahr 2021/2022 bundesweit 161 Rudel, 43 Wolfspaare sowie 21 sesshafte Einzelwölfe nachgewiesen. Das sind 1175 bestätigte Wolfsindividuen. Aufgrund wohl unbekannter Einzeltiere wird die Dunkelziffer deutlich höher ausfallen. Das Wolfsvorkommen konzentriert sich hauptsächlich von Sachsen aus in nordwestliche Richtung über Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen. Mit insgesamt 47 Wolfsrudeln ist das Land Brandenburg Spitzenreiter, gefolgt von Niedersachsen mit 44 Rudeln. Mit der Ausbreitung des Wolfes nehmen auch die durch das Raubtier verursachten Schäden zu.
Wolfsrisse ohne Meldung
Etwas träge stapft Ulf auf die Wiese. Eine alte Tränke sowie einige Zaunpfeiler lassen erahnen, dass hier mal Kühe standen. Der Landwirt zeigt auf eine leichte Kuhle in der Grünfläche. „Dort habe ich das erste gerissene Kalb gefunden. Besser gesagt das, was von ihm noch übrig war“, erzählt er. Nach dem ersten folgten viele weitere Risse. Herdenschutzmaßnahmen wie doppelte Zäune und Hunde konnten seine Herde vor dem Großraubtier nicht schützen. „So viel ich auch versuchte, die Wölfe waren immer schlauer. Jeden Tag stand ich mit einem mulmigen Gefühl auf und hatte Angst, wieder ein gerissenes Rind zu finden.“ Anfangs meldete der Viehhalter noch jeden Riss, doch die Behörden setzten sich nicht ein, Proben gingen verloren, und es kam immer wieder zu Konflikten mit „Wolfsfreunden“. Das Melden von Übergriffen hat er daher gänzlich eingestellt.

Ulf ist kein Einzelfall. Immer weniger Betroffene melden den Behörden ihre Risse. Widersprüchlich, denn ohne Meldung entgeht den Landwirten die Chance auf Entschädigungen. „Gerade kleinere Betriebe melden keine Risse mehr. Somit sind auch keine realistischen Zahlen zu Übergriffen vorhanden“, erklärt Gina Strampe, Pressesprecherin der Interessengemeinschaft der Weidetierhalter Deutschland. Schon längst stehen nicht mehr die Entschädigungszahlungen im Fokus der Viehhalter, vielmehr drohen ihnen Konflikte mit Tierschützern – so folgt häufig nach einer Rissmeldung ein gewaltiger Shitstorm. Gina Strampe findet hierzu klare Worte: „Wir haben keine Lust mehr, uns bloßstellen zu lassen. Wir sind es leid, fremde Menschen auf unseren Weiden zu finden, die uns in der Öffentlichkeit diffamieren. Es ist eine große psychische Belastung, ein totes oder verletztes Tier nach einem Übergriff vorzufinden. Wir sind für das Wohl unserer Tiere verantwortlich. Ist der Bevölkerung bewusst, dass die Artenvielfalt auch in Gefahr ist, wenn Grünland, Naturschutzflächen, Deiche und der Alpine Raum nicht mehr beweidet werden? Wölfe, die einmal gelernt haben Zäune zu überwinden, werden es immer wieder tun.“
Wild Wald Wolf
Als passionierter Jäger bejagt Ulf ein 1200 ha großes Feld-Wald-Revier. Klassisch für Brandenburg besticht es durch offene Kiefernwälder und sandige Böden. Rot-, Dam-, Schwarz-, Muffel- und Reh- sowie Raubwild hatten hier bis vor ein paar Jahren ihren Einstand. Doch durch den Wolf hat sich vieles im Revier verändert – das sonst standorttreue Rotwild ist abgewandert, Damwild ist nur noch seltenes Wechselwild und die Mufflons wurden gänzlich vom Wolf ausgerottet. „Früher hatte ich reichlich Muffelwild im Revier. Es gab mehrere Rudel von 15 bis 30 Mufflons. Als der Wolf dann kam, bildeten sich Großrudel von 180 Stück“, erzählt Ulf. Es hat eineinhalb Jahre gedauert, bis der Wolf das komplette Muffelvorkommen aufgefressen hat. In vielen Teilen Brandenburgs und Niedersachsen ist das Muffelwild bereits verschwunden. Der übliche Aufschrei einiger Natur- und Artenschützer bleibt jedoch in diesem Fall aus. „Der einzigen Wildschafart in Deutschland wird der Artenschutz verweigert, weil die Tiere hier als ‚nicht heimisch‘ betrachtet werden“, meint Ulf. „Und das, obwohl sie schon seit mehreren 100 Jahren hier leben und sich erfolgreich fortpflanzen.“ Laut der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) steht das Muffelwild auf der Roten Liste der gefährdeten Tiere.
Die Schäden durch den Verbiss verlagerten sich räumlich. „Es fiel auf, dass durch die starke Bejagung durch den Wolf der Verbiss durch Reh- und Damwild nur in wenigen Regionen vorkam. Dafür aber deutlich intensiver als sonst“, erklärt Ulf. „Auch das Jagen veränderte sich.“ In seinem Revier hat Ulf nur noch ¼ der Strecke, die er sonst innerhalb eines Jagdjahres hatte. Die üblichen Bejagungsstrategien funktionieren nicht mehr, da das Wild sehr heimlich geworden ist. Um Wildschäden auf seinen Äckern zu umgehen, hat Ulf im Wald Ablenkkirrungen und Wildäcker angelegt. Diese wurden jedoch vom Wolf regelmäßig kontrolliert, sodass das Wild vermehrt auf die Felder zog und dort Schäden verursachte.
Der Wolf hat Ulf zunehmend die Freude an der Jagd genommen. Früher veranstaltete der Landwirt in seinem Revier jährlich eine Drückjagd, bei der immer Stöberhunde geschnallt wurden. Heute finden keine Bewegungsjagden mehr statt, um die Wildbestände zu schonen. Zusätzlich schnallen immer weniger Hundeführer ihre Jagdhunde. Zu groß ist das Risiko, dass die Vierbeiner einem Wolf begegnen.
Zukunft mit dem Wolf
Wie kann der Umgang mit dem Wolf in Zukunft gestaltet werden? Die Fronten zwischen Natur-, Umweltverbänden, Landwirten, Jägern und Tierschützern verhärten sich immer weiter. Eine Lösung muss dringend her. Das Land Niedersachsen ist Vorreiter und hat das Institut für Wildbiologie und Jagdwirtschaft der Wiener Universität für Bodenkultur (BOKU) mit einer wissenschaftlichen Studie zur Populationsentwicklung des Wolfes beauftragt, um einen günstigen Erhaltungszustand herauszufinden. Die Ergebnisse wurden 2022 veröffentlicht. So heißt es in der Studie, „dass auch unter der Annahme verschiedenster Szenarien – beispielsweise unvorhergesehene Naturkatastrophen – mit einer exponentiellen Zunahme der Wölfe in Deutschland zu rechnen ist.“ Ferner zeigen die Ergebnisse, dass ein erneutes Aussterben der Wölfe selbst bei kontrollierten Entnahmen sehr unwahrscheinlich ist.
Seit 2022 ist der Wolf in Niedersachsen mit ganzjähriger Schonzeit im Jagdrecht verankert. Mit den 44 bekannten Wolfsrudeln in Niedersachsen ist der biologisch erforderliche Mindestbestand laut der Studie schon längst erreicht. Warum wird der Wolf also nicht bejagt?

Ulf ist müde. Erschöpft durch die ewigen Diskussionen über den Wolf. Für ihn wurden nicht nur seine Tiere gerissen, vielmehr hat der Wolf eine Teilexistenz seines Betriebes, die seit mehreren Generationen bestand, unwiderruflich ausgelöscht. Rinder, die früher draußen leben konnten, gibt es nicht mehr. Wie soll zukünftig eine naturnahe Landwirtschaft, wo der Freigang von Nutztieren ein erstrebenwertes Ziel ist, mit der Anwesenheit eines Großraubtieres in unmittelbarer Nachbarschaft funktionieren? Und warum wird das Recht des (Über-)Lebens des Wolfes von Teilen der Gesellschaft ethisch und moralisch höhergestellt als von Haustieren? Ulf findet darauf keine Antwort.
Der Wolf im Überblick
Kurzinterview mit dem Wolfsbeauftragten der Landesjägerschaft Niedersachsen Raoul Reding.
PIRSCH: Wieso ist der Wolf wieder da?
Reding: Der Wolf ist ein sehr anpassungsfähiges Tier mit einer vergleichsweise hohen Reproduktionsrate für ein Säugetier in dieser Größenordnung. Der Lebensraum sowie die Nahrung sind vorhanden.
PIRSCH: Was hat der Wolf für ein Beuteverhalten?
Reding: Als Hetzjäger und aufgrund seiner Rudelstruktur und Köpergröße hat der Wolf die Möglichkeit unterschiedlichste Beutetiere zu erbeuten. Er hat ein breites Nahrungsspektrum. Er konzentriert sich vor allem auf größere Huftiere. Eine Spezialisierung auf bspw. Pferde oder Fersen gibt es so nicht. Diese Wölfe haben es vielleicht gelernt, dass so etwas möglich ist, aber eine Spezialisierung findet erst statt, wenn die Tiere zu großen Teilen von diesem Beutearten ernähren. Dafür gibts noch zu wenige Nutztierrisse in dieser Kategorie.
PIRSCH: Wie wird das Wolfsvorkommen bestimmt?
Reding: Mit dem Monitoringsystem können wir nur einen Minimalstbestand feststellen, der anhand von Präsenzdaten erfasst wird. Dazu gibt es bundeseinheitliche Monitoringstandards, an die sich alle Bundesländer soweit halten. Anhand dieser Standards wird die Populationsgröße ermittelt, bzw alle einzelnen Nachweise bewertet.
PIRSCH: Wie werden Wolfssichtungen/-begenungen bewertet?
Reding: Normale Sichtungen werden ins Wolfsmonitoring aufgenommen. Da erfolgt keine direkte Reaktion. Sollte sich ein Wolf aber sehr nah am Menschen aufhalten und Interesse an ihm zeigen, wird dann das Management automatisch eingeschaltet und die wenden sich an die betroffenen Personen und versuchen vor Ort geeignete Maßnahmen umzusetzen.
PIRSCH: Ab wann gilt ein Wolfsverhalten als bedenklich?
Reding: Wenn der Wolf aktiv die Nähe zum Menschen sucht, sich nicht vertreiben lässt und sich aggressiv verhält.