Der Wind bläst fies in mein Gesicht, als wir uns gegen halb vier Uhr morgens in den steierischen Alpen aufmachen. Es hat nochmal gefroren, und der Winter kämpft ein letztes Mal um sein Dasein. Das Auto haben wir etwa einen Kilometer entfernt an einer Abzweigung hoch oben im Berg stehen lassen und sind seitdem die Forststraße entlang gepirscht. Unser Ziel: der Lebensraum des Auerwildes. Nun erreichen wir eine breite Wegkehre, und Robin, der mich auf meiner Suche begleitet, bezieht dort einen kleinen Schirm. Er ist in einer leichten Senke eingebettet und bietet einen fast waagerechten Blick auf die Straße und den auf der anderen Seite anschließenden Fichten-Lärchenwald.
Ich selbst gehe währenddessen weiter zu einem kleinen Steig, der mich in Serpentinen durch einen Fichtenbestand führt – tief hinein in den Bergwald. Obwohl ich mir am Tag zuvor noch den Weg eingeprägt hatte – so dachte ich zumindest –, komme ich leicht davon ab. Tote Fichtenäste streichen mir durchs Gesicht und verursachen ein Brennen auf der Backe. Dann finde ich zurück auf den Pfad und erreiche meinen Schirm. Er ist aus Stangenholz gebaut und mit Fichtenästen verblendet. Die Nadeln sind jedoch schon braun und bröseln bei jeder Berührung gen Boden.
Mein Herz hämmert, und das Blut rauscht in meinen Ohren. Da ich zuvor leicht geschwitzt habe, fröstelt es mich jetzt. Ich ziehe den Pullover höher ins Gesicht. Eine knappe halbe Stunde höre und sehe ich nichts als das Flüstern der Kronen der Nadelbäume. Dann plötzlich, es war immer noch dunkel, dringt ein anderer Laut an mein Ohr: Ein Ton, als ob jemand dumpf mit der Zunge schnalzen würde. Nur andersherum. Nach kurzer Zeit und einigen Wiederholungen wird der Laut mit einem zweiten kombiniert: Ein Schleifen, so als ob jemand zwei kleine Feilen gegeneinander reiben würde. Als nach einer Weile auch noch ein heftiges Flattern zu hören war, bin ich mir sicher: Meine Suche ist zu Ende. Irgendwo in unmittelbarer Nähe auf dem stockfinsteren Waldboden sitzt er und wird sein Liebesspiel gleich fortsetzen – der Urhahn, der größte Hühnervogel Europas.
Auerwild ist selten geworden in Mitteleuropa. In Deutschland ist es großflächig ganz verschwunden. Nur in manchen Mittelgebirgen und in den Alpen hat es überlebt. In Österreich sieht die Situation etwas besser aus. Dort scheuen noch mehrere Forstbetriebe und Jagdgesellschaften die Mühen der Habitatpflege nicht, die der eindrucksvolle Hühnervogel benötigt. Die Jagd auf den großen Hahn ist dort – trotz diverser Regularien der Europäischen Union – noch erlaubt.
Blick für Habitate
Einer der mitverantwortlich ist, dass es dem Auerhahn in der Steiermark vergleichsweise gut geht, ist der Förster Erich Temmel. Ich sitze bei ihm zuhause in der Küche, und als der Anfang 50-Jährige beginnt, über die großen Vögel zu erzählen, glitzern seine Augen wie Diamanten. Seine ersten Kontakte zu den Raufußhühnern hatte er schon als Kind: Gemeinsam mit dem Förster seiner Heimat hatte er den singenden Hahn anspringen dürfen. „Das werde ich nie vergessen – es hat mich so geprägt, dass ich selber ein Förster werden wollte, der Auerwild im Revier hat.“ Wer Auerwild und Forstwirtschaft kombinieren will, braucht vor allem eines: einen Blick für Habitate. Denn die scheuen Hühner haben diverse Ansprüche an ihren Lebensraum. Vor allem große Forstbetriebe können jenen am ehesten gerecht werden.

Im Jahre 1989 trat Temmel seinen Dienst bei der Realgemeinschaft an, für die er auch heute noch arbeitet. Schnell begriff er, dass eine Fortsetzung der lange üblichen Kahlschlagbewirtschaftung der Bergwälder das Aus für das Auerwild bedeuten würde. Innerhalb von zehn Jahren hat er stattdessen knapp die Hälfte seines 3000 Hektar Reviers durchforsten lassen – und das Auerwild explodierte. Licht und Wärme in den Nadelholzbeständen sind die Gründe dafür. „Am Balzplatz hat man aufpassen müssen, dass dich keiner umrennt“, lacht Erich. Das Prinzip der Einzelstammnutzung bei Hiebsreife und einer konsequenten Stammzahlreduktion sind die Faktoren, die Auerwild und Forstwirtschaft kombinierbar machen. „Sich für die Artenvielfalt mit dem Wald zu spielen, das ist die wahre Aufgabe eines Forstbetriebes.“
Als ich durch Erichs Revier laufe, kreisen seine Worte durchweg in meinem Kopf, und ich versuche den Wald nicht als Wald, sondern als ein Puzzle aus vielen verschiedenen Bestandteilen zu betrachten. Und je länger ich mir diesen Berg aus abertausend Einzelteilen anschaue, desto klarer wird das Bild: Der Waldboden ist übersät von Zwergsträuchern wie Heidel- und Preiselbeere. Überall zwischen den Kronen der Fichten, Kiefern und Lärchen blinzelt die Sonne hindurch und wirft ihr Licht auf den Boden. An den Wegrändern sind Ameisenhaufen zu erkennen. Sie sind wie auch diverse andere Insekten wichtig als Proteinnahrung der Küken, das Gesperre.
Licht und Wärme sind die treibenden Kräfte
Neben den vielen geschaffenen Äsungsmöglichkeiten sticht mir auch die etwas merkwürdig erscheinende Naturverjüngung ins Auge. Erich wird mir später erklären, dass Auerwild gerne auf Geländestufen im Altholz sitzt. Dort hat es den besten Überblick und eräugt Feinde wie Steinadler, Habicht, Fuchs oder Uhu am ehesten. Da es sehr schwere Vögel sind, streichen sie am liebsten hangabwärts davon. Würde flächendeckend die Verjüngung sprießen, wäre das bei Dickungsschluss wie eine Wand – unpassierbar für den Hahn, der diese Gegend dann meiden würde. Macht Erich also solche Abflugrampen aus, lässt er zehn bis 15 Meter breite Schneisen in die jungen Fichtenkegel darunter mulchen, damit die Waldhühner hindurchstreichen können. „Alles, was licht ist, ist gut“, sagt er. Nicht nur für den großen Hahn, sondern auch für das Reh. Und die bedanken sich mit nur marginalen Verbissprozenten an der Waldverjüngung und guten Wildbretgewichten. Zuzufüttern braucht er trotz hoher Schneelagen im Winter nicht.
Fünf Dinge, die die Forstwirtschaft machen kann
- Bei der Planung von forstlichen Arbeiten die saisonale Einstandwahl der Hühner berücksichtigen
- Früh und ausreichend durchforsten
- Abraum nicht kreuz und quer liegen lassen: Auerwild möchte sich am Boden barrierefrei bewegen können
- Flugschneisen hangabwärts schneiden, um den Lebensraum nicht einzuengen
- Kulturzäune verblenden bzw. am besten ganz vermeiden, um Fallwild zu vermeiden
Langsam neigt sich der Tag seinem Ende zu. Robin hatte mir einen kleinen Sitz gezeigt, an dem ich eventuell die Abendbalz miterleben kann. Auf dem Weg dorthin fällt mir eine Fichte auf, die einer Lärche sehr nahe – aus waldbaulicher Sicht zu nahe – steht. Wieder erinnere ich mich an das, was mir der Förster erzählt hatte: Forstliche Zeitansprüche zurückfahren, Rücksicht nehmen. In Forstbetrieben ohne Auerwild würde diese Fichte sofort entfernt werden. Erich hingegegen lässt sie bewusst stehen. Fichten sind durch ihr Nadelwerk sehr blickdicht. Deshalb schlafen Auerhühner gerne auf ihnen. Die Lärche hingegen ist äußerst licht, hat aber den Hühnervögeln wohlschmeckende Nadeln. Die Kombination aus den beiden Bäumen ergibt folglich einen sicheren Schlafbaum für die Nacht, von dem das Auerwild gefahrlos am nächsten Morgen auf seinen Fraßbaum umsteigen kann. Trotz solcher auerwildfreundlichen Maßnahmen hat die Realgemeinschaft ihren Holzzuwachs mittlerweile fast verdoppelt.
Der Auerhahn-Wald: Ein Lebensraum voller Vielfalt
Ich pirsche weiter, und das helle hohe Fiepen eines rufenden Sperlingskauzes dringt an mein Ohr. Kurz darauf zischt er von einer am Wegrand stehenden Fichte weg, tiefer hinein in den Wald. Auch solche Arten profitieren von einem Waldbild, das dem Auerwild guttut. Auf dem schlammigen Forstweg ist plötzlich das Trittsiegel einer Sau zu sehen. Die Erfolgswelle des Schwarzwilds ebbt auch hier im Bergwald auf gut über 1000 Meter über dem Meer nicht ab. Den Boden-brütenden Raufußhühnern kann das nicht gefallen.
Mein Sitz für den Abend ist ein kleiner Bodenstand, die Hauptblickrichtung folgt der Forststraße. Rechts davon schmiegen sich Fichten, Lärchen und Kiefern an den steilen Hang. Links ist lichter Fichtenwald mit viel Blaubeere darunter. „Am Abend wechselt der Hahn noch ein paar Mal den Baum, bevor er schlafen geht“, hatte mir Erich mit auf den Weg gegeben. Seine Augen hatten da wieder dieses Funkeln inne. „Wenn er dann sitzt, beginnt er nochmal zu singen – und das ist etwas Wunderschönes.“
Mittlerweile verstehe ich, warum der Auerwild-Förster seinem Vorgesetzten bislang nie den Wunsch erfüllt hatte, selbst einen Hahn zu erlegen. Wer täglich den Vögeln mit solcher Hingabe begegnet, tut sich wohl schwer damit, den Finger zu krumm zu machen. Auch die Abschüsse externer Abschussnehmer sind strikt reglementiert. Nur alte, abseits balzende Hähne werden erlegt. Eine Lizenz bekommen nur die Reviere, die in Anwesenheit eines externen Prüfers eine bestimmte Zahl balzender Hähne vorweisen können. Ein schwerer Flügelschlag reißt mich aus meinen Gedanken. Kurz darauf – es ist schon so dunkel, dass man nur noch schwarze Umrisse erkennt – schält sich ein wuchtiger Vogelkörper aus einem Gewirr von Ästen einer Fichte rechts neben mir. Dann höre ich das von Erich beschriebene Schnalzen.
Arena frei für den Urhahn
Langsam drängt das Tageslicht die Schatten aus der Balzarena. Die alten Fichten wechseln ihre Farbe langsam von Schwarz in Grau. Meine Backe hat aufgehört zu brennen, und die dicke Jacke wärmt mich mittlerweile. Auf dem Waldboden liegen nur dickere Äste und tote Stämme. Kronenteile und alles, was die Hühner stören könnte, lässt Erwin stets von seinen Waldarbeitern auf einen Haufen werfen. Vor allem der balzende Hahn will laufen können, ohne zu stolpern. Zudem ist es ihm wichtig, einerseits selbst gesehen zu werden und gleichzeitig einen eventuell anwechselnden Fuchs früh zu entdecken.
Trotzdem brauche ich etwas Zeit, um ihn zu finden. Hören kann ich ihn ja schon länger. Das Erste, was ich ausmache, ist sein halbrunder Fächer. Der Rest ist in etwa 50 Metern Entfernung von einem Baum verdeckt. Dann beginnt er einen neuen Vers, schreitet währenddessen voran und blickt arrogant um sich. Doch Hennen sind trotz seiner Mühen nicht mehr zu sehen.
Die Hauptbalz endet in der Regel um den 30. April, die letzten Rufe verstummen mit den Eisheiligen. Die stolzen Vögel verteilen sich nun über den gesamten Wald. Die Hennen werden bald ihre Nester bauen, am liebsten an Stellen mit vielen Versteckmöglichkeiten und Insekten für die Küken. Erich wird schon dafür sorgen, dass möglichst viele von ihnen groß werden. Bis Mitte Juni werden sämtliche Waldarbeiten eingestellt, die Forststraßen gesperrt. Es kehrt Ruhe ein im Wald des Urhahns.
