Kurze Nächte für Jäger: Als Kitzretter im Einsatz

Im Landkreis Harburg ist in dieser Nacht in den Wiesen viel zu tun. 40 Hektar müssen abgesucht werden. Zeit für die Kitzretter.
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29. Mai 2023
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Die Jäger tragen das Kitz aus der Wiese an deren Rand, wo sie es bis nach der Mahd sicher in einem Wäschekorb verwahren.
Die Jäger tragen das Kitz aus der Wiese an deren Rand, wo sie es bis nach der Mahd sicher in einem Wäschekorb verwahren.

Es ist drei Uhr morgens. Während die meisten Menschen sich noch im Bett umdrehen, sind Klaas Hinnerk Hadenfeldt und sein Team schon unterwegs. Die Drohne summt in der Luft und am Boden stehen Angela Diercks und Axel Küpper mit Funkgeräten bereit. Die beiden Jäger sind nur schwer als schwarze Schatten in der nachtgrauen Ferne zu erkennen. Hadenfeldt blickt konzentriert auf den Bildschirm. Über ihm surrt die Drohne mit Wärmebildkamera und filmt systematisch das Feld ab. Sie sendet Suchbilder: kleine, weiße, stecknadelgroße Punkte, die der Drohnenpilot erkennen muss. Dahinter verbergen sich Rehkitze, die von ihrer Ricke abgelegt worden sind. „Wir müssen sie finden, bevor die Wiese gemäht wird“, ist Hadenfeldt entschlossen und konzentriert sich mit Copilot Marcel Dege auf den Bildschirm. Vier Augen sehen mehr als zwei. „Da ist was!“ Ein kleiner Punkt im Grau. Klaas Hinnerk Hadenfeldt greift zum Funkgerät: Treffer.

Jäger setzen auf Drohnen bei der Kitzrettung

Kitzrettung gehört schon immer zu den Hegeaufgaben. Was früher per Hand durchsucht wurde, übernimmt heute die Technik. Die Jäger schicken Drohnen mit Wärmebildkameras los. Bevor der Boden zu warm wird, müssen die Piloten und der Suchtrupp raus. „Je früher wir unterwegs sind, umso kälter ist die Erde, dann lassen sich die Kitze am besten finden.“ Nachts ist der Temperaturunterschied am deutlichsten. Noch zeigt sich keine Spur der Morgendämmerung, die Nacht ist dunkel, das kniehohe Gras so feucht, dass schon nach wenigen Minuten die Hose durchnässt ist. Doch Angela ist Profi. Sie geht seit fünf Jahren auf Kitzsuche und hat nicht nur Taschenlampe und Funkgerät dabei, sondern auch die Regenhose übergezogen.

Das erste Kitz and Diesem Morgen wird gefunden und geborgen

Der Drohnenpilot zoomt in das Bild und schnappt sich ein Funkgerät. „Auf 5 Uhr ist was. Streck mal den Arm aus. Ja, genau. Und jetzt etwas vorgehen. Halt.“ Gekonnt lenkt er seine beiden Kitzretter über die feuchte Wiese. Die vier Jäger gehören zu den 20 Freiwilligen, die sich die Nächte um die Ohren schlagen, um die Rehkitze zu sichern. „Da das Nachstellen von Wild ist, dürfen das nur Jäger machen“, erklärt Hadenfeldt. Angela Diercks und Axel Küpper setzen vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Es ist sehr dunkel. Sie schalten die Taschenlampe an, denn es ist nichts zu erkennen. Das nasse, hohe Gras wölbt sich in alle Richtungen. Die beiden befinden sich direkt über dem Punkt, aber sehen nichts. Es bewegt sich auch nichts. Die Spannung steigt. „Hier muss es doch sein“, meint Angela Diercks und sucht mit der Lampe. „Da ist es.“ Sie nimmt ihr Funkgerät, „Treffer“ und hält einen Augenblick inne. Unter dem Gras liegt ein Kitz. Klein, schutzlos, zusammengerollt. Ein herzergreifendes Bild. „Das ist der Augenblick, für den sich der ganze Aufwand lohnt. Das Kitz kann höchstens ein oder zwei Tage alt sein“, erklärt die Jägerin und stülpt sich zwei Paar Handschuhe über. Sie greift hinter sich, pflückt zwei Handvoll Grashalme und beugt sich über das Tier. Die Hände mit Handschuhen und Grashalmen geschützt, nimmt sie das Kitz auf und trägt es – so weit wie möglich vom Körper weg haltend – an den Rand der Wiese. „Damit es keinen menschlichen Geruch annimmt.“ In dem Moment kracht es im nahen Unterholz. Eine Ricke springt ab, sie hatte die ganze Zeit in der Nähe gewartet. Die Jägerin bettet das Kitz in das Gras an der Seite, stülpt einen Wäschekorb darüber und sichert ihn mit Heringen. Noch ein Foto gemacht, damit das Handy die GPS-Daten speichert und der Fund erfasst wird. „Wir müssen ja unter Umständen einem anderen Team sagen, wo sich die Kitze befinden, damit sie sie wieder freilassen können“, sagt Angela Diercks. Weiter geht es.

Kurze Nächte und Zwillinge

Marcel Dege hat schon den nächsten Treffer auf dem Bildschirm. „Geht bitte dorthin, wo die Drohne grade ist“, sagt er und lässt das Fluggerät sinken. Die beiden Jäger staksen wachsam durch das hohe Gras voran. „Treffer“. Das nächste Kitz. „Wir finden fast immer Zwillinge“, sagt Angela Diercks. Sie ist schon seit fünf Jahren dabei, trotz der vielen kurze Nächte in der Saison.

Da die Einsätze kurzfristig kommen, läuft vieles neben der Arbeit. Marcel Dege verabschiedet sich um sieben Uhr aus dem Team und macht sich auf den Weg zu seinem Job als Controller. Janine Böhnke übernimmt seine Schicht und die Drohne. Es war die Idee der jungen Jägerin, die Kitzrettung im Hegering Tostedt auf professionelle Beine zu stellen. „Wir haben zunächst mit Piepern gearbeitet, um die Tiere zu vergrämen. Oder einfach wie früher raschelnde Plastiktüten aufgehängt. Aber nichts ist so effektiv wie die Drohne.“

Mit so viel Abstand und wenig Berührung wie möglich birgt Angela Diercks das Kitz.
Mit so viel Abstand und wenig Berührung wie möglich birgt Angela Diercks das Kitz.

Doch die Fluggeräte sind teuer: Fünf- bis sechstausend Euro muss pro Drohne eingeplant werden. Hinzu kommen die Ersatzakkus und Ladetechnik. Da werden leicht siebentausend Euro fällig. Der Hegering hat insgesamt drei eigene Drohnen, zwei wurden komplett mit Spendengeldern finanziert, eine mit Förderung. Zudem greifen sie auf eine private Drohne zurück. „Das Nadelöhr sind immer die Akkus“, berichtet Janine Böhnke. Deswegen lädt der nächste Akku gerade im Auto von Klaas Hinnerk Hadenfeldt. Die Einsätze zu planen und die Teams zu koordinieren, daraus ist für Janine Böhnke ein Fulltime-Job geworden, jedenfalls im Mai und Juni, wenn das Heu gemacht wird. „Die Flächen müssen kartiert sein, wir müssen die Teams einteilen, brauchen nicht nur Freiwillige, sondern auch genug Körbe, Heringe und müssen organisieren, wer wann die Kitze wieder freilässt.“

Auch diese beiden Stücke Rehwild halten sich gerne im Morgengrauen auf der Wiese auf.
Auch diese beiden Stücke Rehwild halten sich gerne im Morgengrauen auf der Wiese auf.

Mithilfe von Google My Maps kann das Team nun auf das eigene Kartenarchiv zurückgreifen und die Grenzen der Flächen nachvollziehen. Das ist manchmal gar nicht so eindeutig.

Junghasen, Kraniche und Gelege

Immer ist die Kitzrettung wetterabhängig. Oftmals wird nur gemäht, wenn drei trockene Tage in Folge angesagt sind. Die Drohne zeigt wieder einen Treffer an. Angela und Axel ziehen durch die Wiese. „Stopp“, kommen die Anweisungen per Funk. „Streck den Arm aus. Gut. Auf 11 Uhr, zwei Schritte vor Dir“. Das Funkgerät knirscht. Dann die Stimme von Angela Diercks: „Das ist ein Gelege. Elf Eier. Beige.“ Doch das Gelege befindet sich außerhalb der Mähfläche, deswegen muss es nicht gesichert werden. Vermutlich Stockente. Auch die anderen Teams haben etwas gefunden ...

Die Jäger tragen das Kitz aus der Wiese an deren Rand, wo sie es bis nach der Mahd sicher in einem Wäschekorb verwahren.
Die Jäger tragen das Kitz aus der Wiese an deren Rand, wo sie es bis nach der Mahd sicher in einem Wäschekorb verwahren.

Hadenfeldt lächelt. In der WhatsApp-Gruppe der Kitzretter macht es „pling“. Es ist noch ein zweites Team im Harburger Land unterwegs. Sie haben gerade Junghasen gesichert. „Wir hatten auch schon einen jungen Kranich, den wir gerettet haben“, erzählt Hadenfeldt. Und manchmal ist die Drohne nicht nur zur Mahd tätig. „Letztes Jahr hatten wir einen Autounfall, bei dem eine Ricke verendet ist. Da wurden wir gerufen, um die Kitze zu orten.“ Er hat tatsächlich zwei Kitze gefunden und zur Wildtierauffangstation nach Rotenburg gebracht. „Eins ist durchgekommen und wurde dieses Jahr ausgewildert“, erzählt er.

Eingespieltes Team: Pilot Marcel Dege lässt die Drohne aus der Hand von Klaas Hinnerck Hadenfeldt aufsteigen, während sich Angela Diercks und Axel Küpper mit dem Wäschekorb in der Hand schon mal in Richtung Flugroute bewegen.
Eingespieltes Team: Pilot Marcel Dege lässt die Drohne aus der Hand von Klaas Hinnerck Hadenfeldt aufsteigen, während sich Angela Diercks und Axel Küpper mit dem Wäschekorb in der Hand schon mal in Richtung Flugroute bewegen.

Die Sonne ist inzwischen aufgegangen. Ganz ohne Rot, ganz unspektakulär am grauen Himmel. Die Kitzretter ziehen zur nächsten Wiese. Insgesamt acht Kitze finden sie an diesem Morgen. Zwischendurch schaut auch der Bauer vorbei, kündigt an, dass gegen 14 Uhr die Mahd vorüber sein soll. Ein Teil der Kitzretter sitzt dann mit müden Augen bei der Arbeit. Angela Diercks bleibt. „Ich bin erst beruhigt, wenn ich weiß, dass alle meine Kitze wieder frei sind“. Sie macht die Runde mit Klaas Hinnerk Hadenfeldt. Schon bald nach dem Lüften des Korbes fiept das Kitz, die Mutter antwortet. „Das ist der schönste Moment der ganzen Arbeit“, sind die beiden Jäger sind einig.

Gelüftet: Ist der Wäschekorb abgehoben, muss sich das Kitz erst einmal neu orientieren.
Gelüftet: Ist der Wäschekorb abgehoben, muss sich das Kitz erst einmal neu orientieren.

Gute Gründe für die Kitzrettung

Was nach einem irrsinnigen Aufwand aussieht, hat vor allem Tierschutzgründe. Es ist grausam, wenn die kleinen Kitze ins Mähwerk geraten und ohne Gliedmaßen in der Wiese liegenbleiben. Fuchs oder andere Prädatoren haben dann leichtes Spiel. Auch die Bauern haben großes Interesse daran, dass die Kitze nicht verletzt werden: Kommt ein ausgemähtes Kitz ins Heu, hat das auch negative Auswirkungen auf die Silage: Das tierische Eiweiß darin kann Botulismus bei den Kühen auslösen.

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