Waschbär zu Weihnachten: Ein jagdliche Weihnachtsgeschichte

An Heiligabend ruht die Jagd. Es sei denn, man muss vor dem Kirchgang schnell noch einen kranken Waschbär im Teich erlösen – und bergen. Ob die Festtagskleidung dabei unbeschadet und vor allem trocken bleibt, verrät einer, der es selbst erlebt hat …
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23. Dezember 2022
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Geißel des Niederwildes: Der unliebsame Waschbär war selbst noch im Winter aktiv.
Geißel des Niederwildes: Der unliebsame Waschbär war selbst noch im Winter aktiv.

Die Weihnachtszeit ist bekanntermaßen eine Zeit der Ruhe, eine Zeit der Besinnung, eine Zeit der inneren Einkehr. Die kurzen Tage verführen förmlich dazu, sich in den Abendstunden nicht mehr aus der trauten Häuslichkeit zu begeben, sondern vielmehr jegliche Wärmequelle behaglich von einer Sitzgelegenheit aus in Ruhe zu genießen. Es sei denn, der Wald ruft, das ist natürlich etwas ganz anderes. Ebenso verhält es sich am Heiligen Abend. Sollte dieser nicht einfach nur im Zeichen der Ruhe stehen? Ich meine, das sollte er ganz gewiss!

Als ich noch meine Selbstbestimmung den elterlichen Erziehungsvorgaben unterwerfen musste, war alles ganz anders. Ja, die Vorweihnachtszeit war von einer gewissen Form der Ruhe geprägt. Ja, behaglich war es auch, aber Rodeln, Skifahren, Schneeballschlachten sowie Streifzüge im verschneiten Wald bereiteten auch unruhige Freude. Dann der Heilige Abend. Dieser war von wenigen Zeitfenstern abgesehen sogar höchst turbulent. Am Vorabend wurden in einer nächtlichen Sternfahrt aus den entfernten Ecken der Republik die Großmütter eingesammelt. Großväter gab es bedauerlicherweise nicht mehr. Damit befand sich am heiligen Morgen schon einmal geballte Begutachtungskompetenz in einem Sessel und einem Schaukelstuhl positioniert im Wohnzimmer. Unter Argusaugen wurde nunmehr der Weihnachtsbaumständer von den nicht sitzenden Familienmitgliedern zur Vereinigung mit dem Weihnachtsbaum vorbereitet. Bei der Einpassung des Baumes wich meistens der kleine Fuchsschwanz dem großen Fuchsschwanz, dann der große Fuchsschwanz der Bügelsäge und nur einmal wich die Bügelsäge einer Motorsäge – ja: im Wohnzimmer.

An guten Ratschlägen mangelte es (leider) nie

Jeder dieser Arbeitsschritte wurde natürlich mit Kommentaren aus Sessel und Schaukelstuhl „geschmückt“. Dabei befanden sich zu diesem Zeitpunkt die Kisten mit dem Baumschmuck noch fein säuberlich im Keller verwahrt. Erreichten diese Kisten nach dem Errichten des Baumes dann endlich das Wohnzimmer, begann der höchst sportliche Teil eines Parallel-Laufs meiner Erziehungsberechtigten zwischen Küche und Wohnzimmer: 20 Kugeln, Kartoffeln schälen beaufsichtigen, 22 Kugeln, Soße zubereiten, 18 Kerzen, Gemüse vorbereiten, 13 Kerzen, Braten vorbereiten – ein permanentes Hin und Her. So vervollständigten sich jedoch stufenweise Baumschmuck und die Nahrungsvorbereitung für den Abend. Auch hier selbstverständlich klar und hingebungsvoll begutachtet aus Sessel und Schaukelstuhl.

Natürlich, wie bei jedem sportlichen Ereignis, gab es noch unvorhergesehene Hindernisse in Form von freundlichen Nachbarn, die die Laufintervalle kurzfristig mit kleinen Geschenkübergaben nebst Baumschmück-Kommentaren unterbrachen. Viele Köche verderben den Brei – bei uns gab es niemals Brei, dafür aber fast immer Gans, selbstverständlich auch mit Kommentaren, nur diese nunmehr von den Esszimmerstühlen aus.

Endlich sollte alles besser werden

„Wenn ich einmal groß bin, dann möchte ich das anders machen!“ – ein fester Vorsatz, den ich gerade in Bezug auf den Heiligen Abend tatsächlich umgesetzt habe. Ich bin jetzt groß. Alles ist bei unserer vierköpfigen Familie am 24. Dezember fertig, ausnahmslos alles. Gut, noch Anziehen, noch weihnachtliche Körperpflege, noch letzte kleine Griffe bei der Nahrung, aber ansonsten: Ruhe, einfach mal wirklich nur Ruhe. Außerdem reisen die nunmehrigen Großeltern eigenständig und per Auto an und wir haben auch keinen Schaukelstuhl. Und Großväter gibt es erfreulicherweise für unsere Zwillingskinder auch noch.

Aus diesem Grund konnte ich immer noch nicht glauben, dass ich schnell atmend, mit einem starken Pulsschlag und in einer sehr labbrigen Jogginghose, selbige mit einer Hundeleine notdürftig zusammengeschnürt und großformatigen Gummistiefeln in der von Kerzenschein ausgeleuchteten Kirche stand und versuchte herauszufinden, welches Lied denn da gerade intoniert wurde. Denn auch im vorigen Jahr, in dem sich das unvorhergesehene Jagdereignis ergeben hatte, war eigentlich alles vorbereitet, alles auf Ruhe ausgelegt.

Ich hatte mich bei grauem, frostigen Winterwetter am Mittag jenes 24. Dezembers nur für eine kurze Stippvisite zu meinem Jagdfreund Steffen absentiert, um die noch nicht überreichten Geschenke abzugeben. Eine überschaubare Anfahrtstrecke, mit überschaubaren Oberflächenvereisungen ließen mich alsbald auf dem festlich geschmückten Bauernhof im winterlichen Harz ankommen. Der eigene Hofladen und der Stoffladen strahlten Weihnachtsstimmung aus allen Poren und waren was fürs Herz. Aus Gefälligkeit waren sie noch am heutigen Tage geöffnet. Mein Geschenkbeutel wurde gegen einen sehr willkommenen Glühwein getauscht, der herrlich dampfte.

Am Hoftor stehend, den Becher in Ruhe leerend, gesellte sich unangemeldet ein gleichförmig gekleidetes Paar in stromlinienförmigen schillernden Trekking-Dress nebst bedrohlich langen Teleskopwanderstöcken und glänzenden Sonnenbrillen zu meinem Freund nebst seiner Tochter und mir. Mit vorgehaltenem Smartphone wurde uns ohne weitere Begrüßung, aber in einem bestimmenden, höchst erregten Tonfall unterbreitet, dass mindestens das örtliche THW oder ansonsten sofort die Feuerwehr informiert werden müsse. Dort, auf dem kleinen Teich, den man gerade im Rahmen des – so wörtlich – „Christmas-Fitness-Parcours“ passiert hätte, befände sich ein schwer verletzter Waschbär.

Man selber hätte jetzt keine Zeit, es seien Zeitvorgaben der Laufstrecke einzuhalten, hier aber kurz die Filmaufnahme. Schon wurde uns der Bildschirm des Premiumtelefons ungefragt unter die Nase gehalten. In den Augen meines Freundes erkannte ich die unterdrückte Antwort (er wollte wohl sagen: „In solchen Fällen holen wir hier immer die GSG 9“), während seine ebenfalls jagdlich passionierte Tochter sichtlich überlegte: „Besser kleine Kugel oder Schrot?“, als sie die kurze Filmsequenz des sich nur unregelmäßig bewegenden Waschbären auf der geschlossenen Eisdecke des Teichs ansahen.

Eine einfühlsame Antwort

Wie aus einem Munde wurde den beiden städtischen Weihnachtshochleistungswanderern jedoch entgegnet: „Das ist hier unser Jagdrevier, wir holen Leiter, Seil, eine Decke und vielleicht einen Korb und kümmern uns um den Verletzten.“ Sichtlich zufrieden und dann strammen Schrittes entfernten sich die terminierten Wintersportler. Ein gleich darauf folgendes „Kommst du mit?!“, war an mich gerichtet. Natürlich begleitete ich die beiden nebst ihrem aufgeregten Weimaraner-Rüden „Henry“. Der hatte längst gespürt, dass das Thema Jagd in der Luft lag.

Teich im Winter
Wie will man bei dünner Eisdecke ohne Boot auf einem Teich vorankommen? Und den Hund würde sie keinesfalls tragen

Am Teich angekommen, war die Situation eindeutig. Tochter Nele ließ ohne ein Zögern die mitgeführte Waffe zum Einsatz kommen und erlöste das Bärchen von seinem Leiden. Jetzt galt es nur noch, die Beute zu bergen. Für „Henry“, den Weimaraner, war die gefrorene Oberfläche aber nicht ausreichend tragfähig. Also musste Herrchen Steffen ran. Das war aber leichter gesagt als getan. Vom Ufer aus machte sich mein Freund, mit einem langen Stecken ausgestattet – und von mir per Hand am Hosengürtel gesichert –, an die Bergung. Erster Versuch, zweiter Versuch, dritter Versuch … letzter Versuch – und „Platsch!“

Ein unfreiwilliges Bad sorgte für lacher

Steffen hatte sich sehr weit vorgebeugt, zu weit. Der obwohl angefroren lehmige Boden hatte nachgegeben. Rettenden Halt gab es nicht, nur dünnes Strauchwerk und Schilf. Einen gestürzten beziehungsweise abrutschenden Jagdfreund lässt man selbstverständlich keinesfalls los. So waren wir also beide entlang des beinahe senkrecht abfallenden Ufers ins Unheil gerutscht. Hintereinander mit Bauchnabel auf Wasserlinie erreichten Steffen und ich den Grund.

Das eiskalte Wasser tat seine Wirkung, um das ungewollte Bad schnellstens zu beenden. Geistesgegenwärtig hatte mein Freund noch mit seinem Ast den Waschbären an den Rand befördert. Während wir wieder trockenen festen Boden unter den Füßen hatten, barg seine Tochter Nele die Beute. Dabei musste sie unweigerlich auf ihren Schal beißen, um die Lachattacken über den Anblick der beiden nassen und erdverkrusteten Wassermänner mehr schlecht als recht zu verbergen.

Am Hof angekommen, hatten die Beinkleider die normale Bewegungsfreiheit eingebüßt. Sie waren schlichtweg steifgefroren. Der rettende Ofen sowie nochmals Glühwein und fragwürdige „Ersatzbekleidung“, für mich in Form einer riesigen Jogginghose, taten ihren Dienst. Gummistiefel von Steffen vervollständigten das Leihgewand. Der Waschbär war erlöst und geborgen, alles schien nun in der allerbesten Ordnung – aber eben nur für einen allzu kurzen Moment. Ein Blick auf die Wanduhr sorgte bei mir unweigerlich für einen völlig unerwarteten Wärmeschub auf Saunaaufguss-Niveau. In der Natur achtet man halt nicht auf die Zeit. Noch 56 Minuten bis zum Beginn des Kirchgangs mit meiner Familie daheim! Ruhe wäre das allerletzte Attribut, das ich da an jenem Heiligen Abend verspürte. Ich hatte völlig die Zeit aus den Augen verloren. Oh Gott!

Schilf und ein Weimaraner
Auch der Weimaraner bleibt lieber auf dem Land. „Wässern“ mussten dann die Zweibeiner.

Adieu, streßfreies Weihnachtsfest

Der Alptraum, der sich im Folgenden ereignete, lief außerhalb meiner normalen Wahrnehmung ab. Der zugeparkte Wagen wurde zuerst in Windeseile auf dem Hof befreit. Den auf der Rückfahrt ungeplanten Stau versuchte ich – als auf ach wie vielen Schüsseltreiben und Kommersen geübter Bariton – durch das laute und kräftige Mitsingen der dem Autoradio entströmenden Weihnachtsliedern moralisch zu verdrängen.

Meine späte Ankunft in unserer heimatlichen Straße in der Landeshauptstadt mit der sich gerade gen Kirche aufbrechenden und verwirrt dreinblickenden gesamten Familie wiegelte ich mit einem „Komme gleich, ich ziehe mich nur schnell um“ gekünstelt ab. Der noch in meiner nassen Hose im Harz befindliche Haustürschlüssel und die dadurch notwendig gewordene hektische Suche nach verfügbaren Bekleidungsstücken außerhalb unserer für mich nun nicht zugänglichen Wohnung, schuf eine weitere Herausforderung die ich aber meistern konnte: Mein Lodenmantel aus dem Pkw-Kofferraum würde meine wenig festtagstaugliche Leihgarderobe kaschieren.

Wenige Minuten nach Ausklingen schallender Kirchenglocken und dem ersten Lied der Weihnachtsandacht stand ich also in Gummistiefeln und Lodenmantel sowie einer glücklicherweise „unsichtbaren“, per Hundeleine umgürtelten blauen Jogginghose in der Kirche. Teile des Körpers waren noch angefroren, andere mit Adrenalin versorgt und alles überdeckend verspürte ich nur einen Wunsch: Ich wünschte im Geiste allen Anwesenden eine gesegnete Weihnacht, ein frohes Fest und einfach nur – ganz, ganz viel Ruhe!

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