Wer die erste Patrone im Kaliber .22 erfunden hat, kann man nicht mehr so recht nachvollziehen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten aber verschiedene Konstrukteure ähnliche Ansätze. Die 22er Randfeuerpatronen basieren jedoch auf den Gedanken des Franzosen Louis Nicolas Auguste Flobert und seiner 1851 vorgestellten 6 mm Flobert. Etwa 1856 debütierte in den USA die von Smith & Wesson herausgebrachte .22 Short Rimfire. Die .22 l.r. (long rifle oder bei uns lfB = lang für Büchsen) wurde 1887 von der amerikanischen Firma J. Stevens Arms & Tool Company eingeführt. Diverse andere Randpatronen folgten.
Die .22 l.r. hat sich in den folgenden Jahrzehnten als unangefochtene Nummer Eins im Sportschießen durchgesetzt, da die Waffen immer präziser wurden, Munition kostengünstig ist und Trainingsgelände weniger aufwändig waren. Neben den olympischen Disziplinen sind klassische Gewehrdisziplinen Standardgewehr, Freie Waffe, English Match oder KK-100 m.
Vom Sport zum jagdlichen Einsatz
Aber natürlich wurde die .22 l.r. auch jagdlich eingesetzt. Nicht jeder war allerdings glücklich darüber. In der Ausgabe von 1954 von „Diezels Niederjagd“ warnte der Autor noch vor dem jagdlichen Einsatz auf Kaninchen. Allenfalls für den Abschuss von Krähen, Elstern usw. sei sie tauglich. Das war sicher zum damaligen Zeitpunkt nicht unbedingt falsch, denn klassische Blei-Rundkopf-Geschosse waren in Sachen letale Wirkung natürlich überfordert, schließlich stanzte man damit nur Löcher ins Papier.

HV (high velocity = Hochgeschwindigkeit) – der maximale Gasdruck liegt bei 1.700 bar – hieß das Zauberwort und schwappte als Hohlspitzvariante über den großen Teich zu uns herüber. Denn in den USA jagte man mit KK-Waffen Erdhörnchen, Tauben & Co. Die Hohlspitzgeschosse entfalteten mit höherer Geschwindigkeit auch ihre Leistung im Wildkörper und töteten sicherer. Wespen, Klapperschlangen u.Ä. Motive untermauerten die neue “Giftigkeit“ der altehrwürdigen 22er.
Viele jagdliche Einsatzmöglichkeiten
Mit KK-Gewehren lassen sich bestens Krähen, Elstern, Tauben, aber auch Kaninchen erlegen. Beim Hasen hatte ich schon Schwierigkeiten und musste nachschießen. Von Fuchs, Marderhund, Waschbär und Dachs rate ich jedoch ab. Natürlich gibt es Verfechter, die ihr hierfür die Tauglichkeit attestieren. Aber reden die auch offen über die Fälle, bei denen es schief ging? Schließlich hat die kleine Patronen nur wenig Reserven!
Darüber hinaus bieten KK-Pistole und -Revolver die Möglichkeit, bei der Baujagd oder an der Lebendfalle bei der Fangjagd schnell durch Kopfschuss zu erlösen. Hier besteht Baden-Württemberg allerdings auf eine Mündungsenergie von mindestens 100 Joule; da sollte man aus seiner Kurzwaffe verschiedene Laborierungen messen lassen, damit man rechtlich auf der sicheren Seite ist.

Nicht zuletzt eignet sich eine KK-Waffe – sowohl Lang-, als auch Kurzwaffe – sehr gut zum preiswerten Training, um das Zusammenspiel von Zielauge und Abzugfinger und auch das saubere Durchziehen des Abzugs zu trainieren. Von dem Üben am Laufenden Keiler rate ich eher ab, weil die Geschossgeschwindigkeit von 340 bis 400 m/s doch nur in etwa die Hälfte einer großkalibrigen Büchse erreicht und dadurch andere Vorhaltemaße in Fleisch und Blut übergehen könnten, die dann draußen für Verdruss sorgen.
Klein, aber oho!
Einige möchten das Thema gerne tabuisieren. Obwohl die Übergriffe auf Jäger zunehmen. Die Kurzwaffe gehört daher für mich (!) zum Jagd- und Selbstschutz an den Mann oder die Frau. Die unterschätzte extrem rückstoßschwache 22er Munition kann schwerste Verletzungen durch Verformung oder gar Aufsplitterung verursachen. Gerade mit HV-Patronen dringen die Geschosse problemlos in Torso und Schädelknochen ein, weshalb verschiedene Staaten die Spezialisten ihrer Sicherheitsorgane schon früh damit ausrüsteten. Als in den 1970ern Flugzeugentführungen als politisches Instrument „in Mode kamen“, gab man bewaffneten Flugbegleitern 22er Pistolen wie die Beretta M71 mit, denn ihre Projektile durchschlugen nicht die Flugzeugkabine. Es sind mehrere Fälle bekannt, in denen Entführer damit ausgeschaltet werden konnten. Denn der geringe Rückstoß ermöglicht gleich mehrere schnelle Treffer hintereinander, was Jan Boger in seinem Buch „Combat Digest“ als „multiple hit“-Effekt bezeichnet.

22er? Muss man als Jäger haben!
Alles in allem ist die .22 l.r. eine feine Patrone und echte Bereicherung. Man kann mit ihr waidgerecht bis 60 oder maximal 70 m Kleinwild erlegen, sie steht als Fangschussgeber bei Bau- und Fallenjagd ihren Mann und ist darüber hinaus ein kostengünstiger Freudenspender auf dem Schießstand, wenn es um das Üben oder auch mal zum Spaß auf Bierdosen geht.
Der Überflieger
Eine der derzeit schnellsten 22er stammt von CCI – die Stinger .22 l.r. EX. Die Munition darf nur mit Munitionserwerbsberechtigung mit Eintrag „.22 extra lr“ oder eben auf Jagdschein erworben werden. Beschussrechtlich soll das Verschießen aus Waffen in .22 l.r. allerdings nicht erlaubt sein. 1.640 f/s gibt der Hersteller an, was fast 500 m/s entspricht; wahrscheinlich aus einem Messlauf. Die Hülsen sind geringfügig länger, der Gasruck liegt bei 1.800 bar und das Geschossgewicht fällt mit 32 grs leichter aus. Verwegene Nutzer raten von engen Matchpatronenlagern ab und berichten von guter Funktion in Standardrepetierern und auch Selbstladern (doch Vorsicht!). Dann würde die deutlich lauter knallende Super-22er eine gute Präzision und ein Plus an Reichweite liefern; allerdings nicht aus allen Waffen. Das ist aber nicht ungewöhnlich, schließlich muss man stets die für seine Waffe beste Munition nach dem Motto „try & error“ suchen.
